Wer sich an die Anfänge des Internets erinnert, kann ins Staunen
darüber geraten, was wir dem Web inzwischen alles anvertrauen. Fast
jeder zweite Deutsche regelte 2017 Bankgeschäfte im Netz, so eine
GfK-Umfrage im Auftrag des Bundesverbandes deutscher Banken. Der Glaube
an die Sicherheit ist mit der Zeit gewachsen: 2007 vertrauten nur 36
Prozent der Bundesbürger dem Onlinebanking, zehn Jahre später bereits
die Hälfte. Und das, obwohl die genauen Prozesse hinter einer
Online-Überweisung auch heute wenigen bekannt sind. Immerhin jedoch
steht die Bank dabei noch als Mittler zwischen Geldsender und -empfänger
– analog und physisch.
Einen entscheidenden Schritt in Richtung
einer Digitalisierung ohne Vermittler und Medienbrüche ist die Netzwelt
erst in jüngerer Zeit mit der Einführung von Kryptowährungen wie
Bitcoin gegangen. Die Blockchain-Technologie, auf der diese aufbauen,
macht vertrauenswürdige Intermediäre wie Zahlungsdienstleister
überflüssig.
Das
unerwünschte Kopieren digitaler Daten kann erstmals seit Entstehung des
Internets direkt verhindert werden. Zum einen, weil die Daten auf
vielen Rechnern verteilt lagern. Zum anderen, weil alle Transaktionen zu
Blöcken gebündelt werden, die über ihre Bezeichnungen mit bereits zuvor
generierten Datenblöcken zu einer Kette verbunden werden – der
Blockchain.
Mit der Blockchain in eine effizientere Energiewelt
Auch
zu einer neuen Energiewelt kann die Blockchain beitragen. Denn ähnlich
wie Banken den Zahlungsverkehr regeln, so regeln auch Energieunternehmen
Transaktionen: etwa als Versorger und Dienstleister oder als Betreiber
von Netzen und Speichern. Wenn Haushalte – zum Beispiel mit
Photovoltaikanlagen – zu Prosumern werden und selbst Erneuerbare
Energien in niedere Spannungsebenen einspeisen, schnellt die Anzahl der
am Markt teilnehmenden Stromproduzenten in die Höhe. Für eine effiziente
Koordination dieser zunehmenden Zahl an Akteuren ist es hilfreich, wenn
in Echtzeit Informationen über das Ein- und Ausspeisen ausgetauscht
werden. Von Hand ist das zeitlich und finanziell nicht machbar, vielmehr
braucht es automatisierte Lösungen wie Smart Contracts, die einfache
Wenn-dann-Funktionen sicher und nachvollziehbar ausführen.
Nicht
nur die alltägliche Mittlerfunktion, auch die zugrundeliegende
Regulierung wird mit steigendem Vernetzungsgrad der Energiewelt
schwieriger. Dazu sagt der Gründer des Start-ups STROMDAO, Stefan Thon:
„Im bisherigen Energiemarkt mit seinen rund 1.000 Teilnehmern musste der
Gesetzgeber den Konsensrahmen setzen.“ Das aber ändere sich mit
zunehmender Dezentralisierung, durch die private Haushalte zu
Stromproduzenten werden: „Bei 1,5 Millionen möglichen Marktteilnehmern
muss ein neuer Konsensraum geschaffen werden. Die ganzen
Anwendungsbeispiele kann der Gesetzgeber gar nicht abdecken. Da ist die
Blockchain zwangsläufig.“ Mitgründer Thorsten Zoerner fügt hinzu: „Wenn
jeder Marktakteur, angefangen beim kleinen PV-Anlagenbetreiber, die
Regulierung umsetzen soll, bleibt ihm heute nichts anderes übrig, als
diese Aufgabe an die Energieversorger zu delegieren. Damit diese sich
weiter auf ihre Kernaufgabe – den Dispatch zwischen Erzeugung und
Verbrauch – konzentrieren können, muss die Technologie übernehmen.“
Aber
nimmt die Blockchain Energieversorgern nicht Aufgaben weg? „Streng
genommen machen wir nichts anderes, als an der Disruption unseres
eigenen Geschäfts zu arbeiten“, so ließ sich E.ON-Sprecher Alexander Ihl
vergangenen Sommer zitieren. Das Unternehmen beteiligt sich am
Energiegroßhandel auf der Plattform „Enerchain“, die vom IT-Spezialisten
Ponton entwickelt wurde. Dabei seien zudem, so Gründer Tilo Zimmermann,
40 weitere tonangebende europäische Unternehmen wie RWE, Uniper,
Vattenfall und EnBW. In dieser Blockchain lassen sich zugangsbeschränkt
Handelsdaten – Angebot und Nachfrage, Preis, Mengen, Bezug – festhalten.
Einsehbar sind sie für jeden zugelassenen Teilnehmer. Die Übermittlung
der Informationen erfolgt deutlich effizienter als über Intermediäre:
Nicht nur Energie- und Kosteneinsatz sind geringer, auch die
Geschwindigkeit der Prüfung steigt und aufwendige Dokumentationsprozesse
werden unnötig.
Zusammenhänge neu denken
Neben
Effizienzgewinnen verspricht die Technologie auch Unterstützung bei
neuen Geschäftsprozessen wie dem Peer-to-Peer-Stromhandel. Wie das
funktioniert, testet das Allgäuer Überlandwerk (AÜW) im gemeinsamen
Projekt „AllgäuMicrogrid“ mit dem New Yorker Start-up LO3 Energy. Der
„Paradigmenwechsel im Energiemarkt“, so die Kemptener, liegt darin, dass
die Nutzer Strom unbekannter Herkunft nicht mehr von nur einem
Stromversorger beziehen, sondern aus einer Vielzahl verschiedener
Lieferanten flexibel selbst auswählen. Via App können sie sich den Mix
ihres Stromes aus lokalen Erzeugungsanlagen zusammensetzen. Auf
Erzeugerseite soll etwa ein Landwirt aus Niedersonthofen mit einer
PV-Anlage überschüssigen Ökostrom nicht mehr nur über die EEG-Vergütung
ins Netz einspeisen, sondern direkt an den lokal nächsten Abnehmer, etwa
einen Mieter in Kempten, verkaufen können. Damit bekommen Nutzer die
Möglichkeit, die regionale Ökostromproduktion gezielt zu unterstützen.
Fünf Haushalte werden als Pilotkunden mit einem Smart Meter
ausgestattet, der Teil der Blockchain ist.
Das „AllgäuMicrogrid“
ist ein Vorreiter des dreijährigen Versuchsprojektes „pebbles“, welches
im März startete. Attraktiv für den Test innovativer Energiekonzepte
werde das Allgäu durch seine hohe Konzentration von erneuerbarer
Energieerzeugung, Batteriespeichersystemen und moderner
Netzinfrastruktur, sagt LO3-Energy-CEO Lawrence Orsini und fügt hinzu:
„Die Plattform bietet den Besitzern von Photovoltaikanlagen eine
alternative Vermarktungsmöglichkeit, wenn die EEG-Vergütung in den
nächsten Jahren für die ersten Anlagen ausläuft: Sie können ihren
Ökostrom auf dieser Plattform anbieten, während konsumbewusste
Verbraucher ihren Strom direkt aus ihrer Nachbarschaft beziehungsweise
Region beziehen können.“
Auch
die niedersächsische EWE AG geht mit der Blockchain ein noch junges
Problem an. Stromengpässe im Niederspannungsnetz könnten die Folge
unkontrollierten Ladens von E-Mobilen sein. Weil Netzausbau in der
Bevölkerung nicht gut ankommt und ebenso wenig vorübergehende
Ladestopps, fragte sich das Team um EWE-IT-Innovationsmanager Dr.
Matthias Postina: Wie lässt sich eine Lastverschiebung in andere
Zeiträume anreizen? In Zusammenarbeit mit dem Oldenburger Institut für
Informatik OFFIS erprobte man eine Kombination aus einem Agentensystem
und einer Private-Ethereum-basierten Blockchain. Über seinen Agenten
kann jeder Haushalt anmelden, welcher Strombedarf etwa mit Blick auf den
Folgetag vorliegt – sei es die E-Auto-Ladung, die Wärmepumpe oder das
abendliche TV-Programm. Stellt der Netzbetreiber aufgrund dieser
Prognosen zu einem bestimmten Zeitpunkt Flexibilitätsbedarf fest,
schreibt er diesen in die Blockchain. Die Agenten in den Haushalten
verhandeln daraufhin untereinander und passen ihre Fahrpläne im Haus an,
sodass die Überlast für den Netzbetreiber entschärft wird. So kann ein
E-Auto-Besitzer, der morgens um acht mit ausreichender Ladung losfahren
möchte, in der Nacht laden, wenn der Netzengpass vorüber ist. Agent und
Blockchain kommunizieren vollautomatisiert, denn die Bewohner sollen
möglichst wenig mitbekommen. „Damit das Handy nicht mitten in der Nacht
meldet: ‚Jetzt bitte Wäsche waschen!‘“, so Postina.
In der
Schaufensterregion enera startete im Mai der Feldtest. Bis 2019 soll die
Technologie in der Realität zeigen, ob sie ihr Versprechen hält. Dann,
so Postina, wollen er und seine Kollegen sie auf die Straße bringen. Für
den Versuch konnten die Projektverantwortlichen namhafte Partner
gewinnen: Bosch etwa kann sich vorstellen, mit eigenen
kommunikationsfähigen Systemen Haushalte „fahrplanfähig“, ihre Nachfrage
also planbar zu machen. „Wo die Probleme entstehen, nämlich im
Niederspannungsnetz, kann man sie auch gleich beheben und muss sie nicht
erst an eine Zentralstelle melden. In autonomen Bereichen reguliert
sich das Netz so ein Stück weit selbst“, sagt Postina.
Währung der organisierten Kriminalität, Klimakiller
Ein
öffentliches Projekt wie dieses lobt Blockchain-Experte Thorsten
Zoerner. „Aber es gibt bestimmt zehnmal so viele nichtöffentliche
Projekte, in denen Blockchain drinsteckt.“ Das liegt am Imageproblem der
Technologie: So meldete eine Forschergruppe im März, die
Bitcoin-Blockchain enthalte Kinderpornografie. Dazu hieß es: „(…)
Gesetzestexte aus Ländern wie Deutschland, Großbritannien und den USA
legen nahe, dass illegaler Inhalt wie Kinderpornografie den Besitz der
Blockchain für alle Nutzer illegal machen könnte.“ Hier zeigt sich ein
Dilemma der öffentlichen Blockchain: Das Fehlen einer zentralen
Kontrollinstanz ist gewollt und verspricht neue Geschäftsmodelle, die
bislang nicht möglich waren. Gleichzeitig stellen sich in diesen
rechtlich unsicheren Räumen neue Fragen: Wer haftet, wenn Transaktionen
nicht wie vereinbart ausgeführt werden? Noch dazu steht die Blockchain
in der Kritik, massiv Strom zu verbrauchen. Für Energieversorger macht
das den Einsatz der Technologie erklärungsbedürftig.
Energiesektor: ein vielversprechendes Anwendungsgebiet
Finanzierungsinstrument
im Darknet oder überhöhte Allzweckwaffe: „Die komplexe
Blockchain-Technologie ist seit fast zehn Jahren immer häufiger
Gesprächsthema, wird aber nach wie vor nur von wenigen wirklich
verstanden“, so Prof. Dr. Christoph Meinel, der Direktor des
Hasso-Plattner-Instituts (HPI), das kürzlich den Report „Blockchain –
Hype oder Innovation?“ veröffentlichte. „Wenn wir mit den klassischen
Energieversorgern sprechen, haben zwar alle von der Blockchain gehört“,
so Metin Fidan, der bei der Unternehmensberatung EY das Marktsegment
Energy verantwortet. „Aber welche Teile der Wertschöpfungsstufe die
Technologie verändern kann, ist noch wenig bekannt, ebenso die
Anwendungen.“ Zunehmend würden bei der Unternehmensberatung Workshops
für Mitarbeiter unterschiedlicher Bereiche angefragt. Fest steht für
Fidan: „Energieversorger und Stadtwerke müssen neue Anwendungsbereiche
identifizieren, um das Potenzial der Blockchain auszuschöpfen.“ Die
Strategie müsse für Versorger jeder Größe darin bestehen, Kooperationen
zu definieren, damit sie selbst sich auf das Kerngeschäft fokussieren
könnten und dabei nicht abgehängt würden.
Im Energiesektor sieht
HPI-Direktor Meinel ein vielversprechendes Anwendungsgebiet der
Blockchain-Technologie. Denn ein Blockchain-Wert kann mit einer
Energieeinheit gekoppelt werden. Doch der endgültige Durchbruch der
Technologie steht aus, sind sich Experten einig. Zuvor gilt es,
technische und rechtliche Rahmenbedingungen zu klären. Energieversorger,
so eine Studie von BDEW und Prof. Dr. Jens Strüker von der Hochschule
Fresenius, könnten als First Mover dabei sein – oder abwarten, bis Ideen
marktreif sind. Die Autoren empfehlen, die Entwicklung von Anwendungen
und Standards sowie regulatorische Rahmenbedingungen mitzugestalten.
Trotz aller Komplexität. Denn für die Blockchain-Technologie gilt wie
für das Onlinebanking: Man muss die Technologie nicht bis ins letzte
Detail kennen, um ihre Vorzüge zu nutzen.
Deutschland als hotspot
Insgesamt elf Energieversorger und 21 Start-ups arbeiten in Deutschland an Blockchain-Lösungen für die Energiewelt, so das Blockchain-Radar von PwC und BDEW im Februar 2018. Was die Potenziale der Technologie für die Ener¬giewirtschaft betrifft, liegt der globale Mittelpunkt in Berlin: Die Entwickler-Community für die Blockchain Ethereum ist hier so groß wie nirgends sonst. Zudem sitzt mit dem Bundesverband Blockchain seit Sommer 2017 die Interessenvertretung der deutschen Blockchain-Szene in der Hauptstadt. Der Verband beteiligt sich an der öffentlichen Debatte, wie Deutschland ein globaler Player im weltweiten Blockchain-Ökosystem werden kann.
Text: Leonore Falk
Studie: "Blockchain in der Energiewirtschaft - Potenziale für Energieversorger"
Wie funktioniert die Blockchain? Welche Möglichkeiten bietet sie der Energiewirtschaft? Bereitet sie den Weg für neue Geschäftsmodelle und erhöhte Effizienz? Der BDEW hat sich – in enger Kooperation mit dem Blockchain-Experten Prof. Dr. Jens Strüker – in einer Studie dieser Thematik angenommen.