Aufwind für die Erneuerbaren: Ihr Anteil am Stromverbrauch ist in den ersten neun Monaten 2018 auf 38 Prozent gestiegen. Der Rekordwert könnte am Ende auch unter der Jahresbilanz 2018 stehen, so die Prognose. Aber reicht das? Mit dem Koalitionsvertrag hat sich die Bundesregierung zum beschleunigten Ausbau bekannt. 65 Prozent des Stroms sollen 2030 aus Erneuerbaren Energien stammen. Das ist ambitioniert, denn das bisherige Ziel liegt mehr als zehn Prozentpunkte darunter: Im EEG 2017 sind 55 bis 60 Prozent Erneuerbare als Zielkorridor für 2035 definiert, im Energiekonzept 2011 lautet die Zielmarke für 2030 noch 50 Prozent.
Quelle: BMWi, BDEW, UBA
Dabei gibt es schon an den aktuellen Fortschritten Kritik. In seinem Sondergutachten "Koordination und Steuerung zur Umsetzung der Energiewende" warnt der Bundesrechnungshof, die Ziele 2020 würden "überwiegend nicht erreicht", die Bundesregierung drohe zu scheitern: "Der enorme Aufwand, der betrieben wird, aber auch die großen Belastungen für Bürger und Wirtschaft – all das steht in krassem Missverhältnis zu dem bisher dürftigen Ertrag bei der Umsetzung der Energiewende." Die Expertenkommission, die Stellung zum Energiewende-Monitoringbericht "Energie der Zukunft" nimmt, hält das 65-Prozent-Ziel zwar "für zwingend, um einen stringenten Transformationspfad im Stromsystem anstoßen zu können". Zugleich verweist sie auf die Warnungen der Netzwirtschaft, das Ziel sei unvereinbar mit dem Status quo des Netzausbaus: "Es kann nicht oft genug betont werden, dass der Netzausbau mit dem Zubau der erneuerbaren Elektrizitätserzeugung abgestimmt sein muss, unbeschadet aller Bemühungen zur Dezentralisierung und Flexibilisierung."
65 Prozent: Wie viel Zubau ist nötig?
Wie viel Leistung Sonne, Wind und Co. tatsächlich beisteuern müssen, um die 65 Prozent zu schaffen, hängt vom Strombedarf 2030 ab. Dafür werden erstens – Stichwort Sektorkopplung – die Nachfrage im Verkehrssektor und die Elektrifizierung im Gebäudebereich entscheidend sein, zweitens die Effizienzanstrengungen: "Unbefriedigende Entwicklung", lautet hier das Urteil der Expertenkommission. Bliebe der Bruttostromverbrauch in Deutschland bis 2030 stabil, sollten für 65 Prozent rund 400 Terawattstunden Strom aus Erneuerbaren Energien stammen und 215 Gigawatt entsprechender Leistung installiert sein, so eine Analyse von Agora Energiewende. Dafür müssten jedes Jahr vier Gigawatt Windkraft an Land neu dazukommen, bei der Photovoltaik ab 2022 jährlich fünf Gigawatt, doppelt so viel wie heute. Zeitgleich sollten mehr Offshore-Windparks ans Netz gehen: Während das EEG den Ausbau auf hoher See bei 15 Gigawatt 2030 deckelt, seien eigentlich 20 Gigawatt erforderlich.
Noch 2018 hat die Bundesregierung mit dem Energiesammelgesetz die angekündigten Sonderausschreibungen auf den Weg gebracht. Dadurch könnten bis 2021 insgesamt vier Gigawatt Windkraft an Land und vier Gigawatt Photovoltaik zusätzlich gefördert werden. Das 65-Prozent-Ziel wird durch die Neuerungen, unter anderem eine Novelle des EEG, allerdings noch nicht rechtlich festgeschrieben. Die langfristige Perspektive durch verbindliche Ausbaupfade für alle Erneuerbaren-Technologien fehle bisher, kritisierte zum Beispiel der Bundesrat.
Historisches Tief bei neuen Windrädern
Vor allem bei der Windenergie müsse jetzt das Wettbewerbsniveau gesichert werden, so der BDEW – denn neue Projekte sind zur Herausforderung geworden: Zuletzt wurden monatlich nur 120 Megawatt neue Windkraftleistung genehmigt, ein historischer Tiefststand. Im Oktober 2018 gab es zudem deutlich weniger Bewerbungen um die Förderung; obwohl 670 Megawatt ausgeschrieben waren, gingen nur Gebote über 396 Megawatt ein, der durchschnittliche Fördersatz lag mit 6,26 Cent pro Kilowattstunde höher als zuvor. Zugleich wollen zwei Bundesratsinitiativen die baurechtliche Privilegierung für Windräder abschaffen und die sogenannte Länderöffnungsklausel wieder einführen. Damit könnten die Länder eigene Abstandsregelungen festlegen. Was das praktisch heißt, zeigt das Beispiel Bayern, wo die Mindestentfernung zur nächsten Wohnsiedlung mit der Formel "Höhe mal zehn" definiert ist: 2017 wurden dort lediglich vier neue Anlagen beantragt. Die Windkraft ist faktisch ausgebremst – immer weniger Standorte kommen überhaupt infrage. Geeignete Flächen für die Windenergie zu finden, könnte damit das drängendste Problem der kommenden Jahre werden.
Doch nicht nur deshalb ist der politische Rückhalt in den Ländern entscheidend – er hat auch Signalwirkung: Neue Einschränkungen und Auflagen erschweren die Bemühungen um Akzeptanz vor Ort. Sie könnten Proteste befeuern und ihnen ein politisches Gütesiegel verleihen, befürchtet BDEW-Hauptgeschäftsführer Stefan Kapferer. Damit wäre nicht nur das 65-Prozent-Ziel gefährdet – sondern die Energiewende insgesamt.
Text: Christiane Waas
Quelle: BMWi auf Basis AGEE-Stat, Agora Energiewende auf Basis Öko-Institut