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"Alles, was elektrifizierbar ist, sollte elektrifiziert werden."

Gunnar Groebler, Vorstandsvorsitzender der Salzgitter AG, im Interview über Wasserstoff und klimaneutrale Gase.

Gasspeicher am Morgen

© OlegRi / Shutterstock

Fazit Fortschrittsmonitor 2024: Der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft ist ein zentraler Baustein zum Gelingen der Energiewende. Zwar prognostizieren aktuelle Planungen eine Inbetriebnahme von rund 12 GW Elektrolysekapazität bis 2030, doch eine differenzierte Betrachtung offenbart eine dynamische Marktsituation mit erheblichen Unsicherheiten. Daher ist es umso wichtiger, das H2–Kernnetz planerisch und finanziell umzusetzen. Bei den Gasnetzen ist die zentrale Aufgabe die Transformation des Netzes für den Transport klimaneutraler Gase.


Gunnar Groebler, angesichts der aktuellen Energiekrise stellt sich die Frage nach der Dekarbonisierung der Industrie in Deutschland. Inwieweit beeinflusst diese Krise die Strategien für die Dekarbonisierung?
Die Ukraine-Krise hat zweifellos zu erheblich gestiegenen Energiekosten geführt, was uns veranlasst hat, unsere Energiestrategie zu überdenken. Dies hat auch Auswirkungen auf unsere Dekarbonisierungsstrategie. Wir haben beschleunigte Maßnahmen ergriffen, wie beispielsweise den Ausbau von Power Purchase Agreements (PPAs). Die Krise hat unsere Überzeugung gestärkt, dass wir die Dekarbonisierung unserer Energiequellen, insbesondere im Bereich Strom, sowie die Dekarbonisierung des Produkts Stahl selbst, weiter vorantreiben müssen.

Eine wichtige Frage betrifft die Entscheidung zwischen "Make or Buy", um Zugang zu grünem Strom zu erhalten. Wie bewerten Sie den Spagat?
Die Entscheidung "Make or Buy" stellt sich sowohl auf der Strom- als auch auf der Wasserstoffseite. Bezüglich des Stroms haben wir an unseren Standorten nicht genügend Fläche, um signifikant zu unserem Stromportfolio beizutragen. Wir haben uns zwar die Strategien anderer Unternehmen, wie beispielsweise BASF mit ihrer Partnerschaft mit Vattenfall, angesehen, aber wir verfolgen einen anderen Ansatz. Unsere Entscheidungen basieren darauf, was wir an unseren eigenen Standorten möglicherweise noch ergänzen können, obwohl dies im Vergleich zum Gesamtbedarf eher geringfügig ist. In Bezug auf Wasserstoff werden wir einen Teil selbst produzieren. Dies hängt jedoch weniger mit dem Wasserstoffpreis zusammen, sondern vielmehr mit der Integration der Wasserstoffproduktion in unsere Kernprozesse, wie die Stahlerzeugung. Dies dient als Lernkurve, um unsere Hydrogen Purchase Agreements flexibler zu gestalten und entsprechend anzupassen.

Wie beurteilen Sie die zukünftige Entwicklung des Marktes für klimaneutralen Wasserstoffs und welche Rolle wird die deutsche Stahlindustrie dabei spielen?
Zunächst einmal ist es wichtig zu betonen, dass in der Industrie alles, was elektrifizierbar ist, auch elektrifiziert werden sollte. Dennoch gibt es Prozesse, die sich nicht allein mit Strom bewältigen lassen. Hier kommt Wasserstoff ins Spiel. Wir werden eine Industrie aufbauen, die sowohl die Infrastruktur als auch die Erzeugung von Wasserstoff umfasst. Wir werden alle verfügbaren Optionen zur Wasserstoffversorgung nutzen müssen, da Deutschland heute ein Energieimportland ist und auch in Zukunft bleiben wird.

In Bezug auf die Frage, wo Wasserstoff eingesetzt werden soll, spielt der Effektivitätsfaktor eine entscheidende Rolle – also wie viel CO2 man für wie viel Euro reduzieren kann. Hierbei sehe ich die industriellen Prozesse als führend an. Ich bin der Meinung, dass wir in der Industrie den höchsten CO2-Verdrängungsfaktor mit Wasserstoff erzielen werden, im Vergleich zu anderen Anwendungen wie Verkehr oder Kraftwerken. Möglicherweise werden auch Kraftwerke irgendwann mit Wasserstoff betrieben. Doch in der anfänglichen Phase, in der Wasserstoff knapp sein wird, wird er wahrscheinlich dort eingesetzt, wo der größte CO2-Verdrängungseffekt erzielt werden kann. Dies ist vor allem in der energieintensiven Industrie, wie der Stahlproduktion, der Fall. Zudem wird es eine weitere Ebene geben, in der entweder das Kohlenstoffatom benötigt wird, etwa in der Chemie, oder in der der Kohlenstoff prozessbedingt nicht vermieden werden kann, wie im Bereich Zement und Klinker. In diesen Bereichen werden wir zusätzliche Lösungen benötigen.

Angesichts der Tatsache, dass Rohstoffe anderswo möglicherweise kostengünstiger produziert werden können, stellt sich die Frage, ob Deutschland weiterhin Stahl produzieren wird. Falls ja, könnte die Stahlindustrie die Produktion von Wasserstoff in Deutschland sowie die entsprechende Infrastruktur als "First Mover" vorantreiben?
Zur zweiten Frage: Die Stahlindustrie ist als First Mover und als bedeutender, flexibler Ankerkunde grundsätzlich prädestiniert, um die Entstehung einer Wasserstoffindustrie in Deutschland voranzutreiben. Aktuell gibt es keinen etablierten Wasserstoffmarkt, und das Henne-Ei-Problem besteht weiterhin. Dies haben wir bei der Salzgitter AG jedoch in gewisser Weise umgangen, indem wir vor anderthalb Jahren eine Investitionsentscheidung getroffen haben. Wir haben erklärt, dass wir ab 2026 eine Leitung und 150.000 Tonnen Wasserstoff pro Jahr benötigen. Als großer Ankerkunde und technologisch flexibles Unternehmen können wir unsere Anlagen sowohl mit Wasserstoff, Erdgas oder einem Gemisch betreiben. Somit ist die Stahlindustrie oder genauer gesagt unser Unternehmen mit seiner Technologie ein idealer Rückhalt für die Entwicklung einer Wasserstoffindustrie in Deutschland.

Zur ersten Frage: Ist es sinnvoll, die Stahlproduktion in Deutschland zu erhalten? Rein ordnungspolitisch betrachtet könnte man dem Stahl in Deutschland kritisch gegenüberstehen. Doch wenn wir das Wirkdreieck aus Ordnungspolitik, Dekarbonisierung und geopolitischer Lage betrachten, können wir durchaus argumentieren, dass Stahl in Europa und insbesondere in Deutschland eine Zukunft hat oder sogar haben muss. Historisch betrachtet waren die Energiepreise in Deutschland immer höher als in anderen Regionen, wie etwa in China, wo Energie stets günstiger war als in Europa. Dennoch haben wir es geschafft, durch Effizienzmaßnahmen wettbewerbsfähige Industriezweige aufzubauen und zu erhalten. Warum sollte uns das in Zukunft nicht ebenfalls gelingen?

Des Weiteren liegen unsere Hauptkunden hier in Europa. Die deutsche Stahlindustrie beliefert einen beträchtlichen Teil nicht nur deutscher, sondern auch anderer europäischer Kunden, die ihre Stahlprodukte in der Regel nicht über weite Ozeane transportieren lassen. Die engen Entwicklungspartnerschaften mit unseren Kunden sind von großer Bedeutung, auch kulturell bedingt.

Wenn man den Startpunkt von Wertschöpfungsketten verlagert, verlagert man über die Zeit auch die gesamte Wertschöpfungskette. Ob dies aus industriepolitischer Sicht in Deutschland oder Europa gewollt ist, ist fraglich.

Welche Chancen ergeben sich für die Salzgitter AG aus dem Aufbau einer klimaneutralen und dekarbonisierten Wasserstoffwirtschaft, und wie plant das Unternehmen, diese zu nutzen?
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir durch die Dekarbonisierung der Industrie, weit über die Stahlindustrie hinaus, enorme Möglichkeiten schaffen. Wenn es uns gelingt, in Europa ein führendes Know-how aufzubauen, könnten wir davon profitieren. Deutschland ist kein Land, das auf Arbeit und Landwirtschaft beschränkt ist, noch ist es ein reiner Rohstoffproduzent. Deutschland lebt von Ingenieurskunst, Intelligenz und dem Export von Ideen. Insofern sehe ich die Chance, dass wir möglicherweise zum ersten Mal seit 150 Jahren die Gelegenheit haben, uns einen Wissensvorsprung zu verschaffen, der weltweit gefragt ist. Wir befinden uns bereits auf dem besten Weg dahin.

Mit welchen Herausforderungen ist Deutschland bei der Entwicklung einer klimaneutralen und dekarbonisierten Wasserstoffwirtschaft konfrontiert, und wie kann die Salzgitter AG dazu beitragen, diese zu überwinden?
Zunächst einmal benötigen wir eine klare Entscheidung darüber, wie die Wasserstoffinfrastruktur aussehen und wie sie finanziert werden soll. Dies wird wahrscheinlich auf ein Public-Private-Partnership-Modell hinauslaufen. Öffentliche Mittel sind notwendig, um private Investoren zu ermutigen, in die Infrastruktur zu investieren.

Ein weiteres Schlüsselwort ist OPEX-Förderung. Wie werden Wasserstoffprojekte, insbesondere Wasserstofferzeugungsprojekte, in der Anfangsphase unterstützt, um auch hier wieder das Interesse privater Investoren zu wecken? Und wie können wir schnell genug Volumen aufbauen, um die Kostendegression zu erreichen? Hier benötigen wir Klarheit, und diese sollte auch in den Fördermaßnahmen berücksichtigt werden. Es ist klar, dass die Kostendiskussion letztendlich zu einer abnehmenden Förderung führen wird, um eine kontinuierliche Überförderung zu vermeiden. Aus meiner Sicht sind dies die beiden Hauptthemen, die gelöst werden müssen.

Wie bewerten Sie die Potenziale und Herausforderungen beim Import von klimaneutralem und dekarbonisiertem Wasserstoff für die deutsche Industrie?
Zunächst sehe ich hier die Chance, Energieresilienz aufzubauen. Wir haben gesehen, wie gefährlich es sein kann, sich zu sehr auf einen Hauptenergielieferanten zu verlassen. Jetzt haben wir die Möglichkeit, unsere Beschaffung über ein breiteres Portfolio zu diversifizieren und dadurch eine gewisse Resilienz zu gewährleisten. Zudem haben wir Zugang zu verschiedenen Erzeugungsquellen. Besonders zu Beginn halte ich es für sinnvoll, auch über den CO2-Gehalt des importierten Wasserstoffs zu diskutieren. Für mich ist blauer Wasserstoff in der Anfangsphase akzeptabel, um kostengünstig Volumen aufzubauen. Hier haben wir die Flexibilität, verschiedene Ansätze zu verfolgen.

Des Weiteren sehe ich im Technologietransfer eine Chance für uns. Durch den Export von Technologien und möglicherweise die Erweiterung von Wertschöpfungsketten, die derzeit sehr regional ausgerichtet sind, können wir neue Möglichkeiten erschließen. Der Import von klimaneutralem Wasserstoff kann dazu beitragen, die Kreislaufwirtschaft zu stärken und voranzutreiben.

Die Frage der zuverlässigen Versorgung spielt stets eine wichtige Rolle. Sollte Europa die Wasserstoffproduktion ausweiten, um eine zuverlässige Versorgung sicherzustellen?
Ja, es wird uns nicht möglich sein, alles in Europa zu produzieren. Wir werden eine globale Wasserstoffwirtschaft aufbauen müssen, einfach weil wir nicht die einzigen Akteure sein werden, die Wasserstoff benötigen. Wir können nicht darauf zählen, dass sämtlicher Wasserstoff, der in Nordafrika produziert wird, ausschließlich nach Europa gelangt; es wird auch andere Akteure geben, die Interesse daran haben, einschließlich der afrikanischen Länder selbst.

Welche politischen Maßnahmen halten Sie für förderlich, um die Entwicklung einer klimaneutralen Wasserstoffwirtschaft in Deutschland voranzutreiben?
Wir sollten vorsichtig sein, die Definition von CO2-freiem Wasserstoff zu Beginn nicht zu eng zu fassen. Brüssel hat sich sehr darum bemüht, grünen Wasserstoff eng zu definieren, was ich in der Hochlaufphase problematisch finde. Wenn der Markt erst einmal in Bewegung ist, können wir sicherlich darüber diskutieren, ob blauer Wasserstoff langfristig durch grünen ersetzt werden sollte.

Ein weiteres wichtiges Thema ist die Infrastruktur, die sehr schnell einsatzbereit sein muss. Das ist eine politische Aufgabe. Die Schaffung eines Rahmens für die Infrastruktur ist eine zentrale Aufgabe für die Regierungen in Berlin und Brüssel, insbesondere in Bezug auf die Finanzierung. Hier müssen wir meiner Meinung nach mehr Dynamik und Geschwindigkeit sehen, aber auch mit Pragmatismus vorgehen, insbesondere bei Genehmigungsverfahren und Prozessen für Wasserstoffprojekte.

Beim Ausbau von Windenergie zum Beispiel haben wir zwar Ausbauziele von der Politik erhalten, aber niemand hat sich Gedanken darüber gemacht, wie die gesamte Wertschöpfungskette aussieht. Wenn wir einen Windpark benötigen, brauchen wir nicht nur Windturbinen, sondern auch Stahl für die Türme und Schiffe für den Transport und die Installation der Turbinen. Ich glaube, wir müssen bei der Hochlaufphase von Wasserstoff die gesamte Wertschöpfungskette von Anfang an berücksichtigen. Wir müssen alles durchdenken und sicherstellen, dass wir rechtzeitig industriellen Partnern Signale geben, ihre Kapazitäten zu erweitern, und ihnen die Sicherheit geben, dass ihre Kapazitäten ausgelastet werden.

Gunnar Groebler, vielen Dank für das Gespräch.


Gunnar Groebler

absolvierte sein Studium an der RWTH Aachen und begann seine berufliche Laufbahn bei der Vattenfall GmbH, einem international operierenden Energiekonzern. Zuletzt war er dort für die die Business Area Wind verantwortlich. Anschließend wechselte er zur Salzgitter AG, wo er heute als Vorstandsvorsitzender fungiert.


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