Stefano Innocenzi, Leiter des Geschäftsbereichs Sustainable Energy Systems bei Siemens Energy, erwartet, dass grüner Wasserstoff in Europa unter bestimmten Rahmenbedingungen wettbewerbsfähig hergestellt werden kann. Voraussetzung ist eine gute Infrastruktur, mit der erneuerbarer Strom und Wasserstoff produziert und transportiert werden können. Dazu ist ein staatliches Anreizsystem notwendig, um den Ausbau zu beschleunigen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Wasserstofftechnologie und Produktionskapazitäten ähnlich wie die Photovoltaikindustrie ins Ausland abwandern.
Herr Innocenzi, Sie haben in Asien viele Jahre Wasserstoffprojekte für Ihren früheren Arbeitgeber Linde umgesetzt und sind ein international erfahrener Experte für die Wasserstoffwirtschaft. Wir beobachten das Thema schon lange, sehen aber erst seit zwei bis drei Jahren, dass es wirklich Fahrt aufnimmt…
Nun ja, ich beschäftige mich mit Wasserstoff – grauem Wasserstoff – schon seit 20 Jahren als Teil meines Geschäfts. Große Wasserstoffgeschäfte für Raffinerien gab es da immer. Jetzt geht es seit einigen Jahren um grünen Wasserstoff und um die Anwendung von Wasserstoff in anderen Bereichen als in der Industrie für Ammoniak, Ethanol oder Stahl. Jetzt wandert das Thema in die Mobilität und daher spricht nun auch die breite Masse über Wasserstoff. Die Industrie tut das schon seit Jahrzehnten.
Für grünen Wasserstoff braucht es grünen Strom. Bis 2030 sollen 80 Prozent des in Deutschland verbrauchten Stroms aus erneuerbaren Energien stammen. 2035 soll die Stromversorgung fast vollständig aus erneuerbaren Energien gedeckt werden. Halten Sie das für realistisch?
Dazu müssten erst mal die Genehmigungsprozesse beschleunigt werden. Eine Offshore-Anlage hat in der Vergangenheit circa sieben Jahre Vorlaufzeit gebraucht. Und dann die Infrastruktur: Wenn wir mit Kunden reden, stellt sich am Ende immer die Frage nach dem Transport von der Erzeugung im Norden zum Verbrauch im Westen und im Süden – es fehlt einfach an Leitungen. Nur wenn diese ganze Infrastruktur jetzt schnell entstehen kann, schaffen wir diese Ziele. Das ist eine gewaltige Herausforderung.
Wie sieht es mit der Finanzierung solcher Projekte aus? Sehen Sie da den Bedarf für Fördermittel, insbesondere für Elektrolyseprojekte?
Wenn wir uns anschauen, wie die Windenergie ausgebaut wurde, sehen wir, dass dort mit „Contracts for Difference“ (CfD) gearbeitet wurde – Differenzverträgen, die volatile oder unsichere Preise absichern, sowohl für den Verkäufer als auch für den Käufer. Diese Art der Förderung bräuchten wir auch für Elektrolyseure. In den USA hat man das im September mit dem „Inflation Reaction Act“ (IRA) geschafft. Das Gesetz wird nicht nur die Steuereinnahmen erhöhen, es sieht auch milliardenschwere Steueranreize für den Ausbau erneuerbarer Energiequellen vor. Wir haben schon kurz danach mit Kunden gesprochen, die sich in den USA Elektrolysekapazitäten im Gigawattbereich sichern wollen. Europa könnte also bald das Problem haben, dass solche Kapazitäten über den großen Teich wandern, wenn die Politik hier nicht schnell handelt. Wir sollten hier auf einen Mechanismus ähnlich dem IRA setzen.
Sehen Sie eine Tendenz zur Abwanderung in die USA?
So schnell geht das nicht. Aber ich kann die Elektrolysemodule (Stacks), die wir in Berlin produzieren werden, natürlich überall hinschicken, wo sie gefragt sind, denn sie sind viel leichter als Alkalinemodule. Bei entsprechender Nachfrage können sie in Deutschland bleiben oder aber nach China, Australien oder Amerika verschifft werden.
Sehen Sie dieses Risiko einer Abwanderung ins Ausland grundsätzlich für alle Technologien rund um die Wasserstoffwirtschaft? So ähnlich, wie es bei Photovoltaikanlagen geschehen ist, die in Asien günstiger zu produzieren waren als in Deutschland?
Die Bundesregierung hat zu Recht das Ziel ausgegeben, dass Deutschland führend bei Wasserstofftechnologien sein soll. Das Risiko, dass es dabei wie bei der Photovoltaik läuft, ist aber durchaus gegeben. Also zum Beispiel, dass chinesische Hersteller billige Technologie liefern. In so einem Fall zahlt Europa die Rechnung, wächst aber selbst nicht. Man muss sich also genau überlegen, wie man mit Importen umgeht. Wir müssen dafür sorgen, dass der Wasserstoff oder weitere daraus hergestellte chemische Verbindungen mit Technologien aus Europa produziert werden. Noch sind wir in einer Führungsposition, die uns das erlauben würde, das sollten wir nutzen. Dafür brauchen wir schnell großskalige Projekte als Referenzen für den Weltmarkt. Hier passiert zu wenig und zu langsam in Deutschland.
Kann blauer Wasserstoff den Markthochlauf für Wasserstoff begünstigen, solange es noch an grünem Wasserstoff und der entsprechenden Infrastruktur fehlt?
Das ist eine Brückentechnologie, vorausgesetzt dass man sehr strikt ist mit den Methanemissionen. Da muss man genau schauen, woher der blaue Wasserstoff kommt. Dass die Ölfirmen CO2 effektiv abscheiden und speichern können, also „sequestrieren“, zeigen die Norweger uns ja zurzeit schon mit „Northern Light“. Die Frage ist jedoch: Wenn jetzt Sequestrierung im großen Maßstab möglich wäre, würden wir dann damit blauen Wasserstoff herstellen oder würden damit Industriezweige gerettet, die sich nicht so einfach dekarbonisieren lassen, wie zum Beispiel die Zementindustrie?
Um den wachsenden Bedarf an grünem Wasserstoff zu decken, muss der Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigt werden: Das Osterpaket der Bundesregierung hat bereits viele Hürden und Barrieren abgebaut. Allerdings wird Wasserstoff kurz- und mittelfristig eine „Mangelware“ bleiben. Halten Sie eine sektorale Priorisierung für notwendig?
Wo der Wasserstoff genutzt wird, sollte die Wirtschaft allein entscheiden. Am Anfang können Quoten und Förderung helfen, aber wenn die Infrastruktur dann da ist, kann die Förderung reduziert und auf bestehende Mechanismen wie die CO2-Mechanismen des ETS zu-rückgegriffen werden. Ich würde keine Sektoren prädefinieren. Die größten Projekte heute sind daher schon in den richtigen Bereichen, zum Beispiel, was unser Partner Air Liquide in der Normandie macht. Sie werden grünen Wasserstoff produzieren, den ihr Kunde für seine Raffinerie nutzt, wo heute noch mit grauem Wasserstoff produziert wird. Das zeigt: Schon heute gehen die großen Projekte auch ohne Regulierung in die richtige Richtung – nämlich dahin, wo es am wirtschaftlichsten ist.
Für welche Nutzung bietet sich Wasserstoff Ihrer Meinung nach an?
Mein Vorschlag wäre, bei den Raffinerien und der chemischen Industrie zu starten. Heute sehen wir, dass die Stahlindustrie für ihre Transformation bereits Bedarf prognostiziert. Und dann wird es für die Schifffahrt interessant, weil die Auswirkungen auf die Lieferkosten nicht so gewaltig wären. Die Kosten sind meiner Einschätzung nach vernachlässigbar. Ein Sportschuh würde minimal mehr kosten, wenn das Schiff mit synthetischem Methanol statt mit Diesel läuft. Viele Verbraucher dürften bereit sein, für klimafreundlichere Waren ein wenig mehr zu zahlen.
Die Stromwirtschaft will Wasserstoff als Speicher für erneuerbare Energien nutzen – die Industriezweige, die Sie nennen, streben hingegen eine Transformation von klassischen Energieträgern hin zu Wasserstoff an. Ist das ein Zielkonflikt?
Die Speicher wird es auf jeden Fall brauchen. Die große Herausforderung ist es aber, auf allen Gebieten zu dekarbonisieren. Dafür benötigen wir ausreichende Mengen an erneuerbaren Energien und Elektrolysekapazitäten. Bisher schon verwendeter grauer Wasserstoff muss erst mal durch grünen Wasserstoff in Industrien wie Stahl und Chemie ersetzt werden. Wir müssen es aber auch schaffen, fossile Energieträger durch grünen Wasserstoff oder andere synthetische Energieträger zu ersetzen. Das sollten Angebot und Nachfrage regeln.
Kann Europa eigenen Wasserstoff wettbewerbsfähig produzieren?
Ich denke, ja. Wenn jetzt erneuerbare Energie in der Nordsee gewonnen wird oder in Spanien, kann europäischer Wasserstoff durchaus auch zu konkurrenzfähigen Preisen produziert werden – sofern es die passenden Pipelines und Speicher gibt.
Selbst wenn es gelingt, mit Skaleneffekten zu arbeiten, werden die Erzeugungspreise für grünen Wasserstoff 2030 für die Industrie immer noch höher sein als für fossile Energieträger – konservativ gerechnet. Können grüne Gase irgendwann zu wettbewerbsfähigen Preisen in Deutschland hergestellt werden?
Die Kosten für die Erneuerbaren müssen runter, die Infrastruktur muss da sein und wir müssen viel mehr in weitere Forschung investieren, um den Einsatz teurer Rohstoffe reduzieren zu können. Es gibt zum Beispiel erste Forschungen dazu, den Iridiumgehalt um das 10- bis 15-Fache zu reduzieren. Da kann Deutschland mit gemeinsamer Forschung seiner Universitäten und Unternehmen ein wichtiger Impulsgeber sein.
Stefano Innocenzi, Leiter des Geschäftsbereichs Sustainable Energy Systems bei Siemens Energy © Siemens
Aber um zu Ihrer Frage zurückzukommen: Das hängt neben den Kosten für erneuerbare Energien vor allem von unserem Regelwerk ab. Wenn die Grünstromdefinition, auf die wir im Rahmen der RED II schon mehr als drei Jahre warten, sehr restriktiv ist und wir nur sogenannten Überschussstrom aus neu hinzugebauten Erneuerbaren-Anlagen nutzen dürfen, wird es schwierig. Auch hier zeigen uns die USA mit dem IRA, wie politische Entscheidungen Projekte ermöglichen können, anstatt sie kaputt zu regulieren.
Stattdessen brechen Sie eine Lanze für CfDs, also Differenzverträge?
Ja, denn solche Mechanismen sind gut für den Import geeignet. Sie sollten aber um einen äquivalenten Mechanismus für die Produktion von Molekülen in Deutschland ergänzt werden. Unternehmen, die in eine Wasserstoffwirtschaft investieren, dürfen nicht auf den Kosten sitzen bleiben – schließlich tun sie etwas fürs Klima und die Gesellschaft als Ganzes.
Abschließend hätten wir noch zwei Fragen zu Siemens Energy. Noch bauen Sie ja Anlagen in den fossilen Bereichen. Was ist für Ihr Unternehmen wichtig, damit Siemens Energy sich dekarbonisieren kann?
Wir arbeiten schon daran. Bis 2030 wollen wir beispielsweise klimaneutral arbeiten, bis 2023 unsere eigene Stromversorgung vollständig auf regenerativen Strom umstellen. Als Unternehmen wollen wir die Emissionen entlang der gesamten Wertschöpfungskette auf null reduzieren: von den Lieferanten über unser eigenes Unternehmen bis hin zur Nutzung unserer Produkte durch die Kunden. In einem Bereich wie Windenergie, der in letzter Zeit unter erheblichem finanziellem Druck steht, muss man beim Kunden ein Bewusstsein dafür schaffen, dass man nicht langfristig in einem Geschäft sein kann, das keinen Profit abwirft. Und keiner der europäischen Windturbinenhersteller arbeitet derzeit profitabel. Das ist ein allgemeines Marktproblem – Nachhaltigkeit und auch Versorgungssicherheit müssen endlich einen Preis bekommen. Im Bereich Gasturbinen investieren und forschen wir viel, um Was-serstoff bei Gasturbinen nutzen zu können. Und natürlich beschäftigen wir uns stark damit, wie wir Industrien dekarbonisieren können.
Wie wichtig sind neue Partnerschaften und Allianzen für Siemens Energy, gewinnt das als Geschäftsmodell an Bedeutung?
Wenn Sie unsere Partnerschaft mit Air Liquide anschauen: Da haben wir ein Joint Venture, in dem Air Liquide Co-Investor in unserer Fabrik in Berlin wird, wir produzieren die Elektrolyseure also zusammen. Wir sehen am Markt aktuell sehr viele Ankündigungen zu Projekten und Fertigungskapazitäten. Ich erwarte nicht, dass alle Firmen ihre Ankündigungen umsetzen werden, denn wenn das Hochskalieren von Fertigung und Lieferkette selbst für uns als großes Unternehmen eine Herausforderung darstellt, werden manche kleinen und mittleren Unternehmen daran scheitern.
Die Frage ist: Haben die großen Versorger in Deutschland das verstanden oder bleiben sie bei ihren althergebrachten Beschaffungsprozessen? Wenn ein Versorger an mich herantritt und sagt: „Bitte, mach deinen Preis heute schon fest, und die Materialrisiken liegen bei dir“, dann sage ich: „Danke, aber diese Risiken können wir nicht allein tragen. Wir brauchen faire Partnerschaften, in denen das Risiko geteilt wird.“ Wenn die andere Seite das nicht versteht, wird sie irgendwann gar keinen haben, der ihr grünen Wasserstoff liefert.
Herr Innocenci, vielen Dank für das Gespräch.
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