Wenn Sie auf die vergangenen drei Krisenjahre zurückblicken, insbesondere auf das letzte Jahr der Energiekrise: Wie sehr waren Sie in Essen mit dem operativen Krisenhandling beschäftigt? Sind deshalb Themen Ihrer strategischen Agenda liegen geblieben?
Tatsächlich standen die vergangenen Jahre im Zeichen der Krisen. Das begann schon im Frühjahr 2020 mit der Corona-Pandemie, auf die wir mit einem sehr intensiven Krisenmanagement reagiert haben. So haben wir dem Homeoffice viel Raum gegeben, was sich bis heute auswirkt. Aber beispielsweise wurden auch die Wegebeziehungen innerhalb unseres Hauses neu aufgestellt oder neue Hygieneregeln für die Betriebsgastronomie eingeführt. Dann kam im vergangenen Jahr das branchenspezifische Thema der drohenden Energiemangellage hinzu. Darauf haben wir in Richtung Politik sehr frühzeitig hingewiesen und gleichzeitig alle Anstrengungen darauf gerichtet, im Fall einer tatsächlichen Mangellage gut vorbereitet zu sein. Zwar ist unser Arm als regionaler Akteur dann doch zu kurz, um die Preisentwicklung beeinflussen zu können, dennoch haben wir die Turbulenzen bestmöglich begleitet. Ein Kernaspekt war dabei die Kommunikation, um unsere Kunden mitzunehmen und ihnen die Preisentwicklung transparent zu erklären.
Bei all den Herausforderungen drohte teilweise unsere strategische Erneuerung zu kurz zu kommen. Insbesondere seit August 2021 konnten wir aber auch das strategische Thema wieder stärker in den Fokus nehmen und seit November 2022 läuft unser groß angelegtes Strategieprojekt „Capital E“.
In der Stadtwerkestudie 2023 sagt nur ein Drittel der Studienteilnehmer, dass sie eine Dekarbonisierungsstrategie haben, die einerseits auf das Unternehmen selbst abstellt und andererseits auch den Kunden Produkte und Lösungen anbietet auf dem Weg, CO2-neutral zu werden. Wo stehen Sie momentan?
Bei der Dekarbonisierung und generell der Verbesserung des ökologischen Fußabdrucks sind unsere Stadtwerke Überzeugungstäter. Das schlägt sich in vielen Aspekten nieder. Beispielsweise haben wir das sogenannte Greenlab, in dem sich Mitarbeitende quer durch alle Abteilungen und komplett hierarchiefrei zusammenschließen und gemeinsam überlegen, wie wir den Fußabdruck verkleinern können — ob durch Dekarbonisierung, Müllvermeidung und -trennung oder beim Wasserverbrauch.
Die jüngste Rezertifizierung unseres Umweltmanagements nach EMAS ist hierzu eine schöne Bestätigung. Seit einigen Jahren beteiligen wir uns am Projekt Ökoprofit der IHK und der Stadt, bei dem es darum geht, umweltbewusst zu handeln und dabei wirtschaftliche Erfolge zu erzielen, also Ökologie und Ökonomie zu verbinden. Wichtig ist aus meiner Sicht, das auch konsequent in die Geschäftspolitik zu übersetzen.
Daher geht es bei unserem Strategieprojekt Capital E darum, wie wir als Stadtwerke die Stadt und die hier lebenden Menschen auf dem Weg der Dekarbonisierung unterstützen können. Dazu verfolgen wir vier Stränge: klimaneutrale Wärmeversorgung, Stromversorgung, Dekarbonisierungsdienstleistung für die gesamte Stadt und klimaneutrale Erfüllung all unserer Geschäftsfelder (einschließlich der Entwässerung).
Die Stadtwerke Essen AG hat eine lange Tradition in der Gasversorgung. In den letzten Jahren diversifizieren Sie Ihr Produktspektrum fortwährend. Wie wird Ihr Produktportfolio 2030 aussehen?
Wir sind seit 156 Jahren Gasversorger. In 25 Jahren werden wir es nicht mehr sein, jedenfalls wird Erdgas ausphasen. Als heutiger lokaler Marktführer im Wärmesektor wollen wir auch perspektivisch eine feste Größe als klimaneutraler Wärmeversorger sein. Bei Fern-, Nah- oder Quartierswärme gilt: In den Netzen liegt unsere Expertise. Wir können Rohrleitungsbau und Tiefbau und betreiben heute schon kleinere Wärmenetze.
Unabhängig davon, ob und inwieweit er im Wärmesektor Anwendung finden wird, ist auch Wasserstoff ein Thema für uns. Wir müssen bereit und in der Lage sein, unsere Netzkompetenz dafür einzusetzen — auch wenn es ein separates Netz geben sollte. Es wäre im Übrigen auch mit Blick auf die verfügbaren Fachkräfte grundfalsch, Erdgasnetzbetreibern den Betrieb von Wasserstoffnetzen zu untersagen. Derzeit sammeln wir zudem Erfahrung mit der Einspeisung von Biogas in relevanten Größenordnungen.
Die Wärmepumpe ist natürlich in ihrer Effizienz unübertroffen. Sollte sie allerdings zum Standard-Baumarktprodukt werden, ist das natürlich nicht mehr unser Geschäft, aber Großwärmepumpen im Verbund mit Wärmenetzen dafür umso mehr. Neben Netzausbau und -betrieb spielen auch integrative Energie- bzw. Wärmekonzepte im Rahmen von Contracting eine zunehmende Rolle für uns, insbesondere für den Essener Wohnsektor.
Wie wird die Wärmeversorgung in deutschen Ballungsräumen (vergleichbar mit Essen) im Jahr 2030 aussehen? Wie nachhaltig wird sie bis dahin sein, was werden wir bis dahin schaffen?
Wir haben einen kommunalen Schatz unter der Erde, das Gasverteilnetz. Das ist nicht nur eine betriebswirtschaftliche Größe, sondern auch ein volkswirtschaftliches Asset, das wir für die Zukunft nutzbar halten müssen, selbst wenn die heutige Dimensionierung dann vielleicht nicht mehr gebraucht wird. Heute wird im Grunde jede zweite Wohnung durch Erdgas beheizt. Das wird in Zukunft durch keine der anderen Energiequellen einzeln kompensiert werden. Aber heute können wir gar nicht wissen, welchen Hochlauf welcher Energieträger erfahren wird. Wenn man auf die Weltkarte schaut: Welche Länder haben bei weniger Flächenkonkurrenz mehr Sonne und Wind als Deutschland? Das sind fast alle. Ich gehe daher davon aus, dass wir einen Wasserstoffzulauf aus verschiedensten Quellen bekommen werden. Wasserstoff kann dann vom Champagner zum Tafelwasser der Energiewende werden.
Lars-Martin Klieve, Vorstand Stadtwerke Essen AG. Foto: Stadtwerke Essen
So etwas sollte man nicht allein auf der Basis des heutigen Status quo verwerfen. Wärmepumpen sind zwar hocheffizient und insbesondere im Neubau unschlagbar, aber Essen ist bereits gebaut, der vorhandene Bestand teils unsaniert. Im hochgeschossigen Wohnungsbau spielen Geräuschemissionen auch eine Rolle. Da werden Wärmepumpen eher nicht die erste Wahl und eine leitungsgebundene Wärmeversorgung weiterhin notwendig sein.
Was beschäftigt Sie beim Strom?
Strom spielte bei uns bislang eine untergeordnete Rolle, schon weil wir selbst weder Netzeigentümer noch Betreiber sind. Künftig wollen wir an dem stark wachsenden Strommarkt partizipieren. Da reden wir ja nicht nur von Wärme, sondern auch von Elektromobilität. Allein quantitativ wird Strom also eine relevante Rolle spielen und wir wollen dafür gerüstet sein. Auch die Stromnetze sind für uns im Rahmen zusammenwachsender Systeme relevant — Stichwort Wärmepumpe. Hier verfügen wir über Expertise, die wir nutzen wollen. In dem Sinne betrachten wir auch kommunale Wärmeplanung als eine langfristige Aufgabe, die sinnvollerweise weiter gehend für eine integrierte Infrastrukturplanung im Sinne einer kommunalen Energieverteilstrategie genutzt werden sollte.
Welche Bedeutung wird die Zusammenarbeit mit der Kommune und kommunalen Unternehmen bei der Umsetzung der Wärmewende für Stadtwerke haben?
Essen hat sich als grüne Hauptstadt ehrgeizige Klimaziele gesetzt. Wir wollen helfen, diese zu erreichen. Denn — das vergisst man schnell — das ist eigentlich die originäre Aufgabe von Stadtwerken überall: die Aufgabenerfüllung der Stadt, die sich dafür privatwirtschaftlicher Unternehmen bedient. Oftmals ist das hinter den wirtschaftlichen Aspekten zurückgetreten. Stadtwerke haben nicht nur gute Ergebnisse abgeliefert, sondern sind teils bundesweit tätig geworden und haben darüber manchmal ihren Ursprung aus dem Blick verloren. Aber auch in den Rathäusern wurden sie vielfach nicht mehr in erster Linie als verlängerter Arm der Kommune betrachtet. In der Energiekrise hat sich das sehr konzentriert und schnell geändert. Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit galten vorher ja als selbstverständlich. Das stand nun aber von einem Tag auf den anderen im Feuer.
Da schwenkte der Blick schlagartig zurück auf die Energieversorgung vor Ort. Das hat auch der Politik und Entscheidungsträger den Blick geöffnet: Dass Stadtwerke eben nicht nur Wirtschaftsunternehmen sind, sondern auch eine wichtige politische Dimension haben. Die Energiewende kann nur mit Stadtwerken vor Ort stattfinden. Früher fanden Stadtwerke einmal im Jahr bei der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse Beachtung. Heute sind wir im ständigen Dialog. Wir wollen als natürlicher Partner der Stadt bei der Erreichung politischer Ziele helfen.
Laufen bei Ihnen schon konkrete Projekte in dieser Richtung mit der Stadt?
Wir haben eine Energieserviceplattform für den Stadtkonzern. So bringen wir etwa bei den städtischen Wohnungsunternehmen Photovoltaikanlagen auf die Dächer. Gleiches gilt für stadteigene Gebäude. Auch das Museum Folkwang haben wir mit einer großen PV-Anlage ausgestattet und begleiten es auf dem Weg zum klimaneutralen Museum — einem der ersten in Deutschland. Da das Museum Folkwang den Exponaten konstante klimatische Bedingungen bieten muss, wird jede Kilowattstunde, die auf dem Dach erzeugt wird, auch direkt verbraucht. Es gibt aber noch viele kommunale Dächer, für die wir uns als Dienstleister empfehlen wollen, ein guter Anfang ist gemacht.
Welchen Einfluss werden Rohstoffknappheit oder Lieferkettenprobleme auf Ihre Weiterentwicklung von Geschäftsfeldern haben?
Bislang waren wir von Materialengpässen kaum betroffen. Sicherlich gibt es auch mal Lieferverzögerungen, aber eine richtige Knappheit war bei uns nicht vorhanden. Dennoch muss man sehen: Wir haben eine globalisierte Wirtschaft. Die Situation insbesondere seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat auch in Europa wahrnehmbare Lücken gerissen. Wir müssen die Lage ernst nehmen, auch wenn es uns direkt bislang weniger getroffen hat. Es besteht das Potenzial erheblichen Sandes im Getriebe.
Mehr als Rohstoffmangel oder gestörte Lieferketten beeinflusst uns der Fachkräftemangel. In einem rohstoffarmen Land wie Deutschland ist der wichtigste Rohstoff in den Köpfen der Menschen. Es ist nicht so, dass wir Stellen überhaupt nicht besetzen können, aber wir haben eindeutig weniger Bewerber. Das betrifft nicht nur uns als Arbeitgeber, sondern auch unsere Geschäftspartner, vor allem im Handwerk. Das führt zu einem Sanierungsstau in den Gebäuden, was den CO2-Minderungspfad belastet.
Wenn Sie einen Wunsch an die Bundesregierung äußern könnten, welcher wäre das?
Ich würde mir wünschen, dass wir nicht auf kleinteilige Vorhaben und Verbote setzen. Mit dem CO2-Preis verfügen wir über ein ganz untrügliches und wirkungsvolles Steuerungsinstrument für den effizientesten Weg zur Klimaneutralität. Wenn sich etwas lohnt, dann wird es passieren. Wenn nicht, wird ein anderer Weg gefunden werden, der sich dann rechnet. Wenn einem dieser Prozess nicht schnell genug geht, kann man den CO2-Preis erhöhen. In sensiblen Bereichen — wie der Raumwärme und der Mobilität — schreckt man aber davor zurück. Dann folgt halbherziges Mikromanagement, etwa indem darüber diskutiert wird, wann welcher einzelne Emissionstreiber möglicherweise verboten wird, egal ob es um Verbrennungsmotoren oder Gasheizungen geht.
Ich wünsche mir mehr Mut und Vertrauen in die Innovationskraft unserer Gesellschaft. So ließen sich auch Antworten finden, an die wir heute gar nicht denken. Wenn wir aber durch Verbote nur einen ganz speziellen Weg vorgeben, wird der immer suboptimal verlaufen. Der CO2-Preis ist, wie gesagt, ein untrügliches Steuerungsinstrument. Innovationskraft und Ingenieurskunst sind immer besser als die Planungskompetenz selbst des allerbesten Bürokraten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Hier die Stadtwerkstudie 2023 downloaden.
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