Deutschland steht vor der großen Herausforderung bis 2045 klimaneutral zu werden. Vor diesem Hintergrund haben die Verbände der Energiewirtschaft BDEW Bundesverband der Energie- und Wasserstoffwirtschaft e.V., DVGW Deutscher Verein des Gas- und Wasserfaches e.V. und Zukunft Gas e.V. in den vergangenen Monaten in einem intensiven Prozess mit ihren Mitgliedsunternehmen und externen Stakeholdern einen Transformationspfad hin zur Klimaneutralität entworfen. Lesen Sie im Folgenden die Executive Summary, zum Download der Publikationen geht es am Ende der Seite.
Wirtschaft und Gesellschaft befinden sich weltweit in einer tiefgreifenden Transformation, um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Deutschland hat sich dabei das Ziel gesetzt, Klimaneutralität bis zum Jahr 2045 zu erreichen. Wir, die Gaswirtschaft in Deutschland, unterstützen dies bedingungslos – und entwickeln daher unsere bisher um Erdgas zentrierten Geschäftsmodelle für eine klimaneutrale Zukunft weiter.
Die Nutzung von fossilem, nicht dekarbonisiertem Erdgas wird bis 2045 bedeutungslos werden. Neue Gase, wie Wasserstoff und seine Derivate sowie Biomethan, werden zukünftig die bestimmende Rolle spielen. Dass sie für ein klimaneutrales Energiesystem unverzichtbar sind, ist heute Konsens. Das künftige Energiesystem gründet daher auf einem Miteinander von strom- und gasbasierten Technologien. Auf dieses klimaneutrale System richtet die Gaswirtschaft ihre strategischen Entscheidungen aus.
Damit die Transformation bis 2045 gelingt, muss sie beschleunigt werden. Dafür ist es unabdingbar, den Transformationspfad so abzusichern, dass eine möglichst krisenfeste und sozialverträgliche Energiewende erfolgen kann. Sowohl die Folgen des Angriffs Russlands auf die Ukraine als auch die Lieferkettenengpässe während der Corona-Pandemie haben die hohe Bedeutung von Resilienz deutlich gemacht: Im Transformationsprozess müssen wir gemeinsam dafür Sorge tragen, dass wir mit Energiepreiskrisen, Herausforderungen für die Versorgungssicherheit und Rückschritten bei der Absenkung von Treibhausgasemissionen umgehen können.
Abstrakte Debatten über Elektrifizierung, Energieeffizienz und den Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft sind nicht zielführend. Die Krisen der letzten Jahre lehren uns, dass die Realität modellhafte Überlegungen schnell überholt und detaillierte Planungen hinfällig macht. Klimaneutralität in gut zwei Jahrzehnten zu erreichen, ist ein so ambitioniertes Ziel, dass vielmehr zeitnah zu treffende Richtungsentscheidungen für einen pragmatischen und resilienten Handlungsrahmen, der die erforderlichen Investitionen technologieoffen anreizt, erforderlich sind.
Die Gaswirtschaft verändert sich, das betrifft Angebot und Nachfrage wie auch die Gasinfrastruktur und die zugehörigen Geschäftsmodelle. Dieser Transformation stellt sich die Branche: In mehreren Workshops mit Vertreterinnen und Vertretern aus Mitgliedsunternehmen und externen Stakeholdern wurden die nachfolgend vorgestellten sechs Thesen und ein Angebot erarbeitet, die den Beitrag der Energiewirtschaft zur Klimaneutralität 2045 aufzeigen. Unser besonderer Dank gilt Dr. Felix Matthes (Öko-Institut), Simon Müller (Agora Energiewende) und Dr. Sascha Samadi (Wuppertal Institut) für ihre wertvollen Anregungen.
Wir betrachten diese Thesen als unser Angebot für einen Neueinstieg in eine der wichtigsten energie- und klimapolitischen Debatten unserer Zeit. Wir möchten uns damit in die aktuellen politischen Diskussionsstränge einbringen: Dabei geht es beispielsweise um die Nationale Wasserstoffstrategie, die Wärmewende, aber auch um die Entwicklung und Implementierung einer Carbon-Management-Strategie oder die Begleitung der entsprechenden europäischen Entwicklungen.
1. Auf dem Weg zur Klimaneutralität – ein resilientes System mit grüner Stromerzeugung und neuen Gasen entsteht
Neue Gase, also erneuerbare und dekarbonisierte Gase, sind für ein klimaneutrales Energiesystem unverzichtbar. Wofür neue Gase zukünftig konkret eingesetzt werden und in welchen Mengen, ist heute in Teilen noch unklar, zu groß sind die Unsicherheiten hinsichtlich technologischer, wirtschaftlicher, (geo-)politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen.
Wegen der großen Unwägbarkeiten ist eine resiliente Gestaltung der Energiewende erforderlich. Dies betrifft sowohl die Robustheit des Transformationspfads als auch die Krisenfestigkeit des angestrebten Zielsystems. Resilienz wird dabei durch die Vorhaltung alternativer Lösungen sowie ausreichend bemessener Infrastrukturen sichergestellt; beides zusammen sorgt für rasche Reaktions- und
Regenerationsfähigkeit im Belastungsfall. Die Speicherfähigkeit erneuerbarer und dekarbonisierter Gase im engen Zusammenwirken mit der erneuerbaren Stromerzeugung trägt wesentlich zum Aufbau eines resilienten Energiesystems bei. Nicht zuletzt stärkt auch die inländische Produktion neuer Gase die Resilienz des Gesamtsystems.
2. In einem klimaneutralen Energiesystem sind neue Gase in Teilen von Industrie, Verkehr sowie Strom- und Wärmeversorgung unverzichtbar
Klimaneutralität macht die Nutzung erneuerbarer und dekarbonisierter Gase erforderlich. Unbestrittene Anwendungsfälle sind ihre stoffliche Nutzung in der Industrie (z. B. Ammoniak, Stahl), im nicht elektrifizierbaren Energieverbrauch (z. B. Flug- und Schiffsverkehr) sowie die Absicherung der Strom- und Wärmeversorgung (z. B. „Dunkelflaute“).
Anteiliger Erdgasverbrauch in der Industrie nach Anwendungsbereichen. Quelle: Zukunft Gas (2023)
Angesichts erheblicher Unsicherheiten schwanken die Schätzungen der entsprechenden Bedarfe. Eine von uns beauftragte Metastudie (Team Consult (2023)), die die Ergebnisse mehrerer anerkannter Klimaneutralitätsstudien zusammenfasst, weist folgende Bandbreiten aus: Für das Jahr 2030 ergeben sich 49 bis 133 TWh unverzichtbarer („noregret“) Bedarf an erneuerbaren und dekarbonisierten Gasen, für das Jahr 2045 zwischen 127 und 396 TWh.
3. Neue Gase machen die Transformation und das Energiesystem resilient
Der Weg zur Klimaneutralität ist nicht vollständig planbar. Er wird immer wieder durch externe Faktoren herausgefordert werden – die Auswirkungen des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine haben dies eindrücklich vor Augen geführt. Und es gibt viele weitere Unwägbarkeiten: technologische Entwicklungen, Akzeptanz, Finanzierungsbedingungen, Lieferketten, Fachkräfteverfügbarkeit, Planungsabläufe und nicht zuletzt die Transformationspfade unserer europäischen Nachbarn.
Die beste Antwort auf diese Unsicherheiten ist, möglichst viele Optionen zu schaffen. Handlungsalternativen senken das Risiko hoher Energiekosten, eingeschränkter Versorgungssicherheit, Rückschritten beim Klimaschutz, mangelnder Akzeptanz bei Bürgerinnen und Bürgern sowie Kunden und damit letztlich abnehmender Unterstützung für das Projekt der Transformation hin zur Klimaneutralität.
Angesichts der benannten Unwägbarkeiten ist es wichtig, die Speicherbarkeit erneuerbarer und dekarbonisierter Gase und die dafür bereits vorhandene Infrastruktur zu nutzen. So schaffen wir mehr Optionen und stärken die Resilienz des Gesamtenergiesystems. Neben rein elektrischen Dekarbonisierungslösungen schaffen daher Anwendungen mit neuen Gasen zusätzliche Lösungsräume für eine Minderung der Umsetzungsrisiken. Resilienzanwendungen neuer Gase sind beispielsweise bei Hochtemperaturprozessen in der Industrie, beim Schwerlastverkehr auf der Straße und im Bereich der Wärmeversorgung in solchen Fällen zu finden, in denen energieeffiziente Gestaltung und Elektrifizierung keine hinreichenden Lösungen darstellen. Auch bei Resilienzanwendungen neuer Gase schwanken die prognostizierten Bedarfe; sie liegen für 2030 zwischen 20 und 60 TWh, für 2045 zwischen 80 und 434 TWh.