Herr Lee, was sind aus Ihrer persönlichen Sicht die bedeutendsten Entwicklungen in China in den vergangenen zehn bis 15 Jahren gewesen?
Die eine Entwicklung betrifft die digitale Welt: Bis 2008 gab es in China die gleichen US-dominierten Plattformen wie im Rest der Welt – also Facebook, Ebay, YouTube, Twitter & Co. Im Zuge der Proteste zu den Olympischen Spielen hat die Regierung alle diese sozialen Netzwerke blockiert, weil darüber Proteste organisiert wurden. Das war zugleich der Startschuss für ein rasantes Emporkommen rein chinesischer digitaler Plattformen und Netzwerke wie WeChat, TikTok, Alibaba oder Tencent.
Zweitens war China noch um 2000 in erster Linie ausführende Produktionsstätte für den Weltmarkt, Stichwort Foxconn, wo Apple seine Smartphones herstellen lässt. In diesem zentralen Technologiebereich ist es China gelungen, in kürzester Zeit enormes eigenes Wissen und Know-how anzuhäufen. Gleiches wiederholt sich jetzt bei der Entwicklung von Photovoltaiktechnologie. Der Westen hat schlicht unterschätzt, wie viel Know-how er verliert, wenn er seine Fertigung komplett in Billiglohnländern verlegt. Kurz: China ist von einer Werkbank der Welt zum Hub für Spitzentechnologie geworden.
In einer Rezension zu Ihrem Buch „Mein Vater, China und ich“ heißt es: „Kein deutscher Journalist versteht die Widersprüche des modernen Chinas so gut wie Felix Lee“. Was sind denn eigentlich diese Widersprüche?
Es gibt da den wunderbar paradoxen Begriff des Staatskapitalismus: China ist offiziell immer noch kommunistisch, pflegt aber einen ganz klassischen Manchesterkapitalismus. Und beweist damit, dass ein kommunistisch-autoritärer Staat und rasante technologische und wirtschaftliche Entwicklung miteinander einhergehen können.
Was fasziniert uns Deutsche so am Thema der deutsch-chinesischen Wirtschaftsgeschichte?
Ich glaube, es ist vor allem das Tempo der Entwicklung. 1980 war China eines der ärmsten Länder der Welt. Es ist eine der größten Errungenschaften dieses Landes, innerhalb von 40 Jahren so viele Menschen aus der Armut zu holen, wie es zuvor noch nie weltweit geschah. Vielleicht fasziniert es die Deutschen so, weil es wie eine Turbo-Variante des deutschen Wirtschaftswunders wirkt.
Ihr Vater war Pionier und Architekt der deutsch-chinesischen Zusammenarbeit bei Volkswagen. In welches Spannungsfeld hat er sich da als gebürtiger Chinese und in Deutschland arbeitender VW-Ingenieur begeben?
Zu Beginn der deutsch-chinesischen Joint Ventures ging es nur um die Errichtung von zwei, drei Produktionsstätten in China. Heute sind es 35! Weder mein Vater noch irgendjemand sonst bei Volkswagen konnte damals ermessen oder abschätzen, dass heute fast jedes zweite Auto in China erwirtschaftet wird. Man war auch noch bis vor zehn Jahren davon überzeugt, dass China zwar in irgendeiner Weise autoritär bleibt, sich aber zugleich gesellschaftlich und gesellschaftspolitisch immer weiter öffnet. Dass es diesbezüglich einmal solche Rückschläge unter Xi Jingping geben würde – das ist etwas, das meinen Vater sehr besorgt.
Sie schreiben in Ihrem Buch: „Vor 50 Jahren war China auf Deutschland angewiesen in Bezug auf die Automobilbranche. Jetzt ist es umgekehrt.“
Ja. Weil sich kein großes Auto- oder Wirtschaftsunternehmen mehr von China verabschieden kann. China ist nicht nur der mit Abstand größte und wichtigste Automarkt der Welt, dort spielt sich auch die gesamte technologische Entwicklung der Elektromobilität ab. Die Chinesen haben es zwar nie geschafft, beim Verbrennermotor relevantes Know-how aufzubauen, aber jetzt im E-Auto Bereich liegen sie mit gigantischem Abstand vorn. Die deutschen Autobauer sind gezwungen, in China präsent zu sein. Denn wenn sie mit der chinesischen Konkurrenz nicht mithalten können, spielen sie irgendwann auch auf dem Weltmarkt keine führende Rolle mehr.
In welchen Themen setzt China noch Duftmarken?
Rohstoffe und seltene Erden: Da ist die Abhängigkeit des Westens von China extrem – und sie zieht sich weiter bis in die nachgelagerten Themen, vor allem den Chemiesektor. Man kann sagen: Die Big Four (BMW, Mercedes, Volkswagen und BASF als Zulieferer der Automobilbranche) haben sich komplett abhängig gemacht von China. BASF liefert für die Automobilbranche Kunststoffe, Lacke, Katalysatoren, Öle und Additive – und investiert aktuell notgedrungen zehn Milliarden Euro in ein weiteres Werk in China.
Ein weiteres großes Thema ist Green Tech: 85 Prozent aller Photovoltaikanlagen, die wir hier verbauen, kommen inzwischen aus China. Das ist schizophren, weil die Deutschen technologisch gerade in dem Bereich noch vor 15 Jahren führend waren. Wenn wir Photovoltaik wieder nach Europa zurückholen wollen, dann wird das nur noch mit Hilfe der Chinesen gelingen.
China engagiert sich sehr stark bei der Energiewende. Hat das Vorbildcharakter?
Jein. Einerseits ist es aktuell tatsächlich so, dass China mehr neue Windkraft- und Solaranlagen verbaut, wie der ganze Rest der Welt zusammen. Das ist schon gigantisch. Andererseits ist China in diesen Technologien inzwischen führend und kann dadurch sehr günstig produzieren. Trotzdem baut China auch weiterhin Kohlekraftwerke. Der Energiebedarf ist in China schlicht so gigantisch hoch, dass trotz der hohen Investitionen in regenerative Energien der Abbau der fossilen Energieträger nur schleppend vorangeht.
Blicken wir hierzulande eigentlich realistisch auf China? Zu blauäugig? Zu kritisch?
Wir haben zu lange zu blauäugig mit China Wirtschafts- und Handelsbeziehungen gepflegt - immer im Glauben, es gebe Wandel durch Handel. Das hat sich geändert, nicht zuletzt auch durch den Ukrainekrieg. Man sieht China inzwischen viel stärker als Bedrohung – denken Sie beispielsweise an die Diskussion um 5G-Router und Netzwerktechnologie: Eigentlich eine simple Technik, aber wenn wir sie aus China importieren müssen, ist es zumindest technisch möglich, dass damit abgehört oder Spionage betrieben wird. Wir müssen diese Abhängigkeiten abbauen.
Wie blicken Sie selber auf die Zukunft Chinas?
Unter Xi Jinping hat sich China definitiv zu einem deutlich unsympathischeren Land entwickelt, das besorgt mich. Hinzu kommen die immer offeneren geopolitischen Konflikte auch mit den USA. Andererseits ist China kein monolithisches Land, sondern eine riesige Nation mit Menschen ganz unterschiedlicher Überzeugungen. Viele Millionen Menschen haben in den vergangenen Jahrzehnten Demokratien zu schätzen gelernt haben, indem sie zeitweise in westlichen Ländern gelebt haben und diese Erfahrung wieder zurück ins Land getragen haben. Die haben es momentan unter Xi Jinping sehr, sehr schwer, aber sie tragen eine Saat in sich. Das lässt mich hoffen, wenn auch vielleicht erst für eine Zeit nach Xi Jinping.
Herr Lee, vielen Dank für das Gespräch.
Felix Lee
ist ein deutsch-chinesischer Soziologe und Journalist. Er war neun Jahre Chinakorrespondent in Peking. 2023 erschien sein Bestseller „China, mein Vater und ich – über den Aufstieg einer Supermacht und was Familie Lee aus Wolfsburg damit zu tun hat.“
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