Der Fujiyama, Japans heiliger und höchster Berg, zieht jeden Sommer bis zu 300.000 Menschen an, darunter viele Pilger. Im Jahr 663 soll ein unbekannter Mönch erstmals auf dem Gipfel gestanden haben. Ganz in der Nähe, auf dem Gelände der ehemaligen Higashi-Fuji-Fabrik, geht es nicht um die Vergangenheit, in der Abenteurer im Gebet Zuflucht suchten. Hier will der Eigentümer Toyota in die Zukunft aufbrechen und nicht länger Autos produzieren, wie in den bisherigen 53 Jahren. Neues Aufbruchsziel: die Stadt der Zukunft. Unter dem Namen „Woven City“ soll eine „menschenzentrierte Stadt, ein lebendiges Labor, eine sich stetig weiter entwickelnde Stadt“ entstehen, sagt Akio Toyoda, früherer Toyota-Präsident und Enkel des Firmengründers,. Doch selbst die Umsetzung dieses ambitionierten Plans begann im Oktober 2022 mit einem Gebet für die Sicherheit.
Woven City: Smart City für morgen
Was am Fuß des Fuji entsteht, ist ein Beispiel für die Smart Cities, die in Asien vielerorts aus dem Boden schießen. Viele der Städte weltweit, die heute als smart gelten, verfügen über intelligente Netze, die – gefüttert mit Nutzungsinformationen aus dem Internet of Things (IoT) – das passende Stromangebot für die lokalen Gewohnheiten bereitstellen. „Aus Smart-City-Konzepten kann viel Gutes entstehen, vor allem Gutes für die Umwelt“, sagt Shannon Mattern, Professorin für Anthropologie an der New Yorker New School for Social Research und Autorin von „A City is Not a Computer“. Zugleich allerdings sei der Möglichkeitsraum auf Dinge beschränkt, die sich quantitativ messen lassen. Chaotische Dimensionen der menschlichen Natur dagegen ließen sich nicht algorithmisieren – da „gibt es immer einen Fehler, etwas, das durch die Maschen rutscht“.
Auch in Woven City stehen Daten im Mittelpunkt: Sensoren und künstliche Intelligenz sollen dafür sorgen, dass autonome Fahrzeuge sicher unterwegs sind. Die Sensoren sammeln Daten, die KI wertet sie aus – neben dem Verkehr soll damit unter anderem die Gesundheit von Einwohnerinnen und Einwohnern überwacht werden. Den Alltag regeln smarte Haushaltsroboter, digitalisierte Kühlschränke und Mülltonnen. Die Energie dafür liefern Photovoltaikanlagen und neu entwickelten Wasserstoff-Brennstoffzellen.
Doch unterwegs in die Zukunftsstadt stellen sich Toyota auch Hindernisse in den Weg: Zwar stehen auf dem Gelände bereits Gebäude, doch der Zeitplan hängt. „Es ist unwahrscheinlich, dass die Stadt vor 2024 bewohnt wird“, so ein Medienbericht.
Songdo: Stadt ohne Menschen
Ortswechsel nach Songdo in Südkorea, rund 40 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Seoul: vor gut zwanzig Jahren noch Meer. Das Wattgebiet wurde aufgeschüttet – heute ragen hier Glas- und Betonfassaden bis in den Himmel. In den Appartements sammeln Tablets Daten, etwa über die Energienutzung, die größtenteils zentral verwaltet werden. „Alles wurde gezielt und geplant hochgezogen. Die ganze Infrastruktur wurde extra groß aufgebaut, und zwar so, dass Straßen und Fußgängerwege auch in zehn oder 15 Jahren noch passen“, sagt Dilruk De Silva von der Ghent University, die sich mit einer Außenstelle auf dem Universitäts- und Forschungscampus Songdos niedergelassen hat.
Tatsächlich: Die Straßen sind breit. Doch der Verkehr fließt meist spärlich und nur wenige Menschen gehen spazieren. Insgesamt ist Songdo wenig fußgängerfreundlich. Ausnahme bildet ein Stadtteil mit Cafés und Restaurants, in dem ein Fahrradweg und breite Gehwege angelegt sind. „Aber man kommt von da aus nirgends hin“, sagt Chunga Cha, Stadtplaner und Anwohner.
Kritiker beschreiben die südkoreanische Zukunftsstadt als „leer, steril und seelenlos”. Eine Maschine, in der alle Rädchen präzise ineinandergreifen, der es jedoch an Einzigartigkeit fehlt. Sie sei für eine reiche Mittelschicht erbaut worden. Nur wer es sich leisten könne, ziehe in die Smart City.
Der urbane Neustart aus dem Nichts verspricht der Bevölkerung Sicherheit und Luxus und der Umwelt Entlastung. Wie aber lässt sich sicherstellen, dass Städte dieser Art auch tatsächlich urbane Zentren werden, quirlig und lebhaft? Oder ist davon auszugehen, dass die Städte der Zukunft je steriler, desto smarter sein werden? „Unsere Städte in Europa sind über Jahrhunderte gewachsen”, sagt Geographie-Professorin Sybille Bauriedl von der Europa-Universität Flensburg. „Da kommt die digitale Infrastruktur eher hinzu und muss in die Stadt eingebunden werden.” Das schlägt auch Boyd Cohen vor, der zu den Pionieren des Smart-City-Konzepts gehört: „Eine intelligente Stadt ohne Menschen ist eine dumme Stadt.“
Hyderabad: Smart City im Heute
Letzte Station: Hyderabad in Südindien. Eine Metropole, in der es wimmelt von Menschen. Sie strömen auf den Markt inmitten historischer Gebäude wie dem Charminar, ein gut 400 Jahre alter Prachtbau und der imposanten Mekka-Moschee. Ebenso zum Stadtbild gehören in die Jahre gekommenen Gebäude mit Witterungsspuren. Mit fast sieben Millionen Einwohnern ist Hyderabad die sechstgrößte Metropole Indiens – und wächst. Auch als „Cyberabad“ bekannt, ist die Stadt zu einer der IT-Zentralen Indiens geworden. Nerds bevölkern den jungen Stadtteil Hitec City, in dem sich Tech-Giganten von Weltrang angesiedelt haben.
Als „smart“ gilt Hyderabad aber, weil es eine der am stärksten überwachten Städte des Landes ist. Etwa 35.000 Kameras sind auf die Bevölkerung gerichtet. Ramesh Loganathan vom Internationalen Institut für Informationstechnologie (IIIT) in Hyderabad und seine Kollegen nutzen die Daten der Videos beispielsweise, um die Luftqualität zu messen, sodass Menschen mit Atemwegserkrankungen zu Zeiten geringerer Schadstoffbelastung das Haus verlassen können. Außerdem arbeitet das Smart City Research Center des Instituts an Methoden, mit denen der Stromverbrauch regelmäßig überprüft und reguliert werden kann.
Gern sähe es Ramesh Loganathan, wenn die Technologie in Zukunft auch bei der Erkennung verdächtigen Verhaltens und der Alarmierung der Polizei helfen würde. Aber wie steht es um die Privatsphäre der Einzelnen? „Diese Daten gehören der Regierung, sie sind bei der Polizei“, so der Forscher. „Ich würde mir nicht so viele Sorgen machen, dass die Daten nicht sicher sind. Wenn man Regierungen nicht vertrauen kann, dass sie Daten sicher aufbewahren, wem denn dann?“
Eine Frage, die sich unter städtischen Realbedingungen offenbar schwerer beantworten lässt als auf der grünen Wiese: Auch in Songdo sorgen tausende Kameras an Ampeln, Fußgängerübergängen und in Tiefgaragen für Überwachung rund um die Uhr. Außerdem nehmen Mikrofone jedes Geräusch auf. Künstliche Intelligenz durchsucht die Aufnahmen nach ungewöhnlichem Lärm. Bei Auffälligkeiten wie berstenden Fenstern oder splitternden Autoteilen übernimmt die Polizei.
In der intelligenten Stadt soll das Leben plan- und messbar werden – Eventualitäten unerwünscht. Doch noch sind viele Fragen offen, darunter auch die nach der Abhängigkeit von Konzernen, die IoT-Anwendungen liefern. Was, wenn etwa Cisco, auf dessen Technik Teile Songdos beruhen, eines Tages keine Updates mehr liefern kann oder will? Wer sorgt dann dafür, dass die Menschen ihre Türen weiter öffnen und ihr Zuhause heizen können?
Der Bevölkerung bliebe in diesem Fall vor allem das, was der unbekannte Mönch auf dem Gipfel des Fujiyama wohl schon vor fast 1.500 Jahren gemacht hat: beten.
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