Für die einen ist sie zu teuer, für die anderen schafft sie Wert, die nächsten sehen klimapolitisch bedingte Wettbewerbsnachteile: Die Energiewende steht längst im Kreuzfeuer einer politisch-gesellschaftlich aufgeladenen Debatte. Ökologische Aspekte werden gegen ökonomische ausgespielt, die Beteiligten werfen sich gegenseitig eine ideologische oder interessengesteuerte Denkweise vor – und in vielen Fällen stimmt das leider auch. Das untergräbt sachgerechte Debatten, beschädigt politische und lähmt unternehmerische Entscheidungsprozesse.
Nun erlauben komplexe Sachverhalte selten eine unstrittig berechenbare optimale Lösung, die politische Abwägung von Vor- und Nachteilen muss Raum haben. Dieser wird aber oft nicht ehrlich gestaltet, korrekt begründete Sachargumente werden von Meinung und Eigeninteressen nicht mehr getrennt.
Blick nach Gestern für Prognose von Morgen?
Veränderungen sind schwierig zu steuern, sie werden getrieben von neuen Technologien, Wettbewerb und äußeren Zwängen. Die Abwägung von Chancen, Risiken und widersprechenden Interessen ist unausweichlich. Wichtig ist die Methodik: Plant man mittels vergangener Erfahrungswerte oder analysiert man Trends, deren Fortsetzung man erwartet? Beides hat seine Berechtigung: Mehrjährige Mittelwerte vergangener Daten gestatten valide Aussagen über aktuell im Einsatz befindliche Technologien. Doch gerade bei technologisch getriebenen Veränderungsprozessen eignen sie sich nicht für eine agile Zukunftsplanung im Wettbewerb. Wie signifikant solche Fehlprognosen ausfallen können, lässt sich am Beispiel der nachfolgend abgebildeten Analyse der Internationalen Energieagentur (IEA) über den Ausbau Erneuerbarer deutlich illustrieren.
Eine wichtige Perspektive öffnet sich, wenn man die Energiewende aus der nationalen Nabelschau befreit und als das erkennt, was sie ist: ein globaler disruptiver Prozess. Disruptionen sind aber durch fundamentale technologische Evolutionen, die in bestehenden Märkten existierende Geschäftsmodelle signifikant verändern oder komplett neue ermöglichen.
Linear oder exponentiell?
Typisch für Disruptionen ist, dass sie sprunghaft und exponentiell verlaufen, weshalb die lineare Fortschreibung von Erfahrungswerten zu fatalen Fehlentscheidungen führen kann. Denn jedes gelöste technologische Problem schafft anfangs mehrere neue, deren Lösung aber erst das bedeutet, was wir Wissen, Fortschritt und später Marktreife nennen. In dieser zäh erscheinenden Reifephase werden die Grundlagen für die danach dynamischen Trends gelegt, die so manchen überrollen: Jeder dokumentierte Fortschritt ruft Wettbewerber auf den Plan, jede gut ausgelastete Fabrik führt zur Planung von weiteren, jeder Verbraucher, der ein innovatives Produkt zufrieden einsetzt, erzeugt Nachahmer, die so etwas auch haben wollen: Solche Prozesse starten zwar oft zäh und langatmig, werden dann aber umso schneller, sobald die ersten Hürden überwunden sind.
Es wäre daher bei disruptiven Prozessen fahrlässig, Thesen zu ignorieren oder zu verwerfen, nur weil sie „unwahrscheinlich“ oder gar unerwünscht sind. Man sollte sich stets damit befassen, ob die später „Game Changer“ genannten Entwicklungen möglich sind - und kritisch prüfen, was passiert, wenn es entgegen der ersten Einschätzung doch so kommt.
Energiewende mischt alle Karten neu
Die Energiewende ist schon jetzt „Game Changer“ par excellence, und zwar bei einem der wirksamsten Treiber überhaupt: den Preissignalen. Die exponentiell sinkenden Stromgestehungskosten von PV- und Winderzeugung sowie der Speicherpreise lassen nicht nur die billigste volatile Erzeugung, sondern in ersten Regionen auch „PV-Kraftwerke“ (PV plus Batteriespeicher) ökonomisch günstiger als jedes fossile Kraftwerk werden, wie die nachfolgende Grafik eindrucksvoll zeigt.
In immer mehr Märkten sind E-Autos inzwischen günstiger als Verbrenner, wobei die aktuellen Leistungssprünge der Batterietechnologien die bisherigen Nachteile bei Reichweiten und Ladezeiten ausgleichen. Global nehmen solche Signale zu: Leistungswerte verdoppeln sich alle paar Jahre, Preise halbieren sich. Von Texas über den Nahen Osten bis nach Zentralchina werden die Kapazitäten von Erneuerbaren exponentiell ausgebaut. Derselbe Trend bei Großspeichern ist unverkennbar – und deren technische Evolution mit anderen Rohstoffen und Spezifikationen hat gerade erst begonnen.
Die Bedeutung von Industriepolitik
Ein globaler Treiber ist die strategische Industriepolitik Chinas, deren Erfolge trotz unterkomplexer Nachrichten über schwache Gewinnmargen angesichts der dominierenden Weltmarktanteile in Kombination mit führender Technologie nicht zu übersehen sind.
Den Inflation Reduction Act darf man als wuchtige Reaktion der USA verstehen. Auch dessen Wirkung wurde lange unterschätzt, die enormen Zuwachsraten im Aufbau industrieller Produktion werden zu zögerlich wahrgenommen. Sieht man die Investitionsströme und deren Quellen, sollte man erkennen, dass selbst ein Regierungswechsel diese Strategie nicht stoppen würde.
Die Disruption ist nämlich keineswegs auf den Energiesektor begrenzt: Strom als primäre Energie wird vollkommen logisch die Elektrifizierung zur Folge haben - und auch diese Entwicklung beginnt gerade erst. Von ersten Wärmepumpen für industrielle Zwecke über laserbasierte Hochtemperaturprozesse bis zu elektrifizierten Endprodukten – es geht um eine Veränderung weiter Teile unserer industriellen Wertschöpfungsketten.
Wie jede Disruption bietet auch diese Chancen für Innovationen auf allen Ebenen – und Risiken für alle, die sie versäumen. Im Unterschied zur Digitalisierung, die Deutschland kaum genutzt hat, wären auch nur vergleichbare Versäumnisse bei der Elektrifizierung fatal, denn hier sprechen wir von der Industrie als tragende Säule der Gesamtökonomie.
Globale Welle rollt bereits
Die Frage lautet also nicht, ob diese disruptiven Veränderungsprozesse gewollt sind, was sie kosten und wie Nutzen und Lasten zu verteilen sind, sondern nur: Wie können sie im globalen Wettbewerb optimal gelingen? Kein Land hat die Kraft, Disruptionen zu bestimmen, sie erzeugen aus sich selbst heraus eine globale Dynamik, der man sich stellen kann - oder von der man überrollt wird.
Das ist eine komplexe ökonomische und politisch-gesellschaftliche Herausforderung, denn in wohl einmaliger Tiefe müssen hier Akteure der Energiewirtschaft über die Industrie bis hin zu den Endverbrauchern zusammenwirken, um erfolgreich zu sein. Innovation muss zum funktionierenden Geschäftsmodell werden, Politik agile Investitions- und Rahmenbedingungen setzen - und die Öffentlichkeit muss das fordern statt alles zu bezweifeln.
Ein wichtiger Anfang wäre es, auf allen Ebenen von einer risiko- auf eine chancenorientierte Kommunikation zu wechseln. Deutschland sollte darüber streiten, was es erreichen will und nicht, welche Risiken zu vermeiden sind. Eine Ökonomie und eine Gesellschaft, die nur risikoavers denkt, wird kaum Chancen nutzen können. Insbesondere bei Disruptionen führt die fahrlässige Strategie, die Wettbewerbsfähigkeit durch Verzögerung zu wahren, typischerweise zu deren Verlust.
Dirk Specht
ist Aufsichtsrat und Unternehmer im Digital- und Energiesektor sowie Dozent in der Medienökonomie. Zuvor war er Digitalchef des Wirtschaftsmagazins Capital und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
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