Absackende Autobahnen, rissige Bahnschwellen, bröselnde Brücken und Pfusch am Bau: In vielen öffentlichen Bauprojekten ist von Beginn an der Wurm drin. Entweder, sie werden deutlich kostspieliger und später fertig als geplant – oder die Qualität leidet. „Wer billig kauft, kauft doppelt“, sagt nicht nur der Volksmund, das ist auch das Resümee von Christian Pegel, Minister für Inneres, Bau und Digitalisierung in Mecklenburg-Vorpommern, angesichts der chronisch mängelbehafteten Ostsee-Autobahnen .
Jährlich vergibt die öffentliche Hand in Deutschland Aufträge mit einem Gesamtvolumen von mehreren Hundert Milliarden Euro, allein auf öffentlichen Bau und Straßenbau entfielen im Jahr 2021 rund 32 Milliarden Euro. In solchen Dimensionen kann ein zu enger Fokus auf den niedrigsten Preis erhebliche Folgeverluste mit sich bringen: Wenn Straßen oder Brücken bereits nach kurzer Zeit ungeplant saniert werden müssen, Gebäude durch Baumängel unbrauchbar werden oder Windkraft- und PV-Anlagen nicht funktionieren, ist guter Rat teuer – im wahrsten Sinne des Wortes. Zwar sichern sich die meisten Auftraggeber ab, indem sie sich für solche Fälle Regressforderungen vorbehalten, das ändert jedoch erst einmal nichts an der Tatsache, dass die entsprechenden Geräte, Bauwerke oder Infrastrukturen zeitweise nicht genutzt werden können. Es stellt sich die Frage: Ist fehlende Nachhaltigkeit oder die Fixierung auf das billigste Angebot ein Systemfehler in Vergabeverfahren? Und muss es tatsächlich so sein, dass das billigste Angebot immer den Zuschlag bekommt?
Stellschrauben für Nachhaltigkeit
Grundsätzlich sei die Vergabe von Aufträgen in transparenten, nachvollziehbaren Verfahren nach den Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und Verhältnismäßigkeit „unzweifelhaft wichtig und alles andere als schlecht“, sagt Prof. Dr. Michael Eßig von der Universität der Bundeswehr München und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Forum Vergabe e.V. in einem Interview mit dem Vergabeblog. Denn das deutsche Vergaberecht enthält eine Vielzahl von Stellschrauben, um jenseits des schieren Angebotspreises die Themen Qualität und Nachhaltigkeit in Ausschreibungen zu verankern. So können Auftraggeber formell Auftragnehmer ausschließen, wenn diese in der Vergangenheit Zahlungsverpflichtungen zu Sozialabgaben nicht nachgekommen sind oder gegen umweltrechtliche Verpflichtungen verstoßen haben. Sie können auch bereits im Vorfeld festlegen, dass nur Unternehmen mit gewissen Qualitäts- oder Umweltzertifizierungen an Ausschreibungen teilnehmen dürfen.
Weitere wichtige Dreh- und Angelpunkte sind die qualitativen Bewertungskriterien, die der Auftraggeber in der Vergabeunterlagen explizit ausformulieren kann. Im Verkehrswesen kann es beispielsweise um Qualitätsvorgaben wie Pünktlichkeit, Sauberkeit, Kommunikation und Fahrgastinformation gehen, während bei Bauvorhaben Fragen der architektonischen Gestaltung und Zweckmäßigkeit, der Einsatz (oder Nicht-Einsatz) bestimmter Materialien oder auch die Energieeffizienz eine Rolle spielt. Weitere qualitative Kriterien können Ausführungs- und Lieferfristen, Wartungszyklen oder auch die Beschaffung von Produkten und Komponenten aus fairem Handel sein. Außerdem kann ein Auftraggeber konkrete Ansprüche an Organisation, Qualifikation und Erfahrung des eingesetzten Personals formulieren.
Sogar bei der Preisgestaltung haben Auftraggeber viel Handlungsspielraum: Sie können neben dem reinen Anschaffungs- oder Dienstleistungspreis auch weitere Details zu den Lebenszykluskosten ausformulieren: Was kostet die regelmäßige Wartung einer Großwärmepumpe? Oder die Entsorgung einer Windkraftanlage nach Ablauf der Nutzungszeit? Und nicht zuletzt haben Auftraggeber die Möglichkeit, die genannten Vorgaben und Qualitätskriterien zu gewichten. Ließen sich also mit einer guten – oder besseren - Ausschreibungspraxis Pleiten, Pech und Pannen verhindern?
Wunsch und Wirklichkeit in der Ausschreibungspraxis
„Im Prinzip ja“, sagt Sven Hohmann. Er ist Geschäftsführer der ibau GmbH, die sich seit 1957 mit Ausschreibungen befasst und als erster kommerzieller Anbieter öffentliche und private Ausschreibungen für potenzielle Ausschreibungsteilnehmer zugänglich gemacht hat. „Wir sehen allerdings“, so Hohmann weiter, „dass in der Praxis der schiere Angebotspreis bis heute immer noch eines der wichtigsten Kriterien bei der Auswahl ist.“
Hinzu kommt laut Hohmann, dass angesichts des Fachkräftemangels in Deutschland und der aktuellen Rohstoffknappheit die Zahl der Bewerberunternehmen pro Ausschreibung deutlich zurückgegangen ist. „Es ist häufig nicht mehr so, dass auf eine Ausschreibung eine Vielzahl von Bewerbern kommt“. Das schraube natürlich die Ansprüche auf Nachhaltigkeit merklich herunter. „Manche Auftraggeber sind froh, wenn sich überhaupt genügend Bewerberunternehmen finden“, sagt Hohmann.
Etwas besser sieht es grundsätzlich bei Großprojekten aus. Ab einem bestimmten Auftragswert müssen Ausschreibungen EU-weit erfolgen. Damit soll erreicht werden, dass bei kostspieligen Vorhaben ein produktiver Wettbewerb unter möglichst vielen Bietern herrscht – und nicht lokale oder befreundete Anbieter bevorzugt werden. Doch auch hier müssen Auftraggeber bei der Erstellung der Vergabeunterlagen ihre Hausaufgaben machen: Wenn die Kriterien für Nachhaltigkeit nicht exakt formuliert werden, lässt sich Nachhaltigkeit nicht automatisch über den Wettbewerb erzielen.
Blick in die Zukunft
Gefragt, ob das Thema Nachhaltigkeit angesichts wackelnder Lieferketten, steigender Energiepreise und der Notwendigkeiten der Energiewende in der Zukunft mehr Gewicht bei Vergabeverfahren hat, zeigt sich Sven Hohmann verhalten optimistisch. „Das Thema hat aktuell noch nicht den Schwung, den es haben könnte. Das liegt aber auch daran, dass Trends grundsätzlich eine Weile brauchen, bis sie sich in Vergabeverfahren manifestieren – und dass die Situation aktuell durch echte Versorgungsschwierigkeiten mit Bau- und Rohstoffen überlagert wird.“ Perspektivisch gesehen könne sich aber kein Auftraggeber auf lange Sicht leisten, das Thema Nachhaltigkeit auszublenden.
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