Zukunftsvision: Deutschland im Jahr 2030. Zwar ist die Energiewende weiterhin Work in Progress. Doch wer mit aufmerksamem Blick durchs Land fährt, kann erkennen, dass sich einiges ändert. So tauchen zwischen Windrädern auf den Feldern seit einiger Zeit immer öfter große Kästen auf, die in Bauweise und Größe Schiffscontainern ähneln. Im Inneren der Kästen befinden sich Elektrolyseure. Sie sorgen dafür, dass vor Ort emissionsfrei Wasserstoff produziert wird – mit Hilfe von überschüssigem Strom, der in windstarken Zeiten von den Windparks nicht ins Netz eingespeist werden kann. Dieser Wasserstoff wiederum ersetzt in der Industrie und beim Betrieb von Fahrzeugen immer häufiger Kohle, Erdgas oder Öl. Auf diese Weise lassen sich Windräder wesentlich besser auslasten und effizienter nutzen.
Menschen sieht man allerdings weiterhin selten zwischen Windgeneratoren und Elektrolyseuren. Gesteuert wird alles aus der Ferne, auch ein großer Teil der Wartung lässt sich aus der Leitwarte erledigen. Nichtsdestotrotz sind hier viele neue Jobs entstanden. Die neue Technik will entwickelt, gebaut, betrieben und instandgehalten werden.
Wasserstoff: Jobmotor mit grünem Antrieb
Was heute viele noch gar nicht im Blick haben, könnte sich in den kommenden Jahren zur Jobmaschine entwickeln: Mit bis zu einer Million Arbeitsplätzen im Wasserstoffbereich rechnete zum Beispiel im letzten Jahr die Strategieberatung Oliver Wyman bis 2030 in Europa. Das Landeswirtschaftsministerium Nordrhein-Westfalen sah schon 2019 in einer Studie (PDF) bis 2030 ein Potenzial von rund 600.000 Arbeitsplätzen in Deutschland. Und Roland Berger prognostizierte rund 16.500 neue Jobs im Wasserstoffsektor bis 2030 allein für Baden-Württemberg.
Auch wenn die Studien teils bis ins Jahr 2018 zurückgehen, ist die Kernbotschaft eindeutig – und durch die Nationale Wasserstoffstrategie von 2020 und die Auswirkungen des Ukrainekriegs dürfte der Strukturwandel hin zum Wasserstoff eher noch mehr Fahrt aufgenommen haben. Dabei fächert sich das Spektrum der Arbeitsplätze breit auf: Anlagen für die Wasserstoffproduktion müssen gebaut, betrieben und gewartet werden. Es braucht Infrastruktur für Transport und Verteilung. Dort, wo der Stoff fossile Energieträger oder Prozessstoffe ersetzen soll – etwa die Kohle bei der Stahlerzeugung oder beim Antrieb von Fahrzeugen – müssen entsprechende Verfahren und Technologien entwickelt oder angepasst werden. Und natürlich braucht es Menschen, die diese Technologien vermarkten und neue Geschäftsprozesse aufsetzen. Es wartet also jede Menge Arbeit. Gesucht wird in nahezu allen Gewerken – vom Handwerker*in über Ingenieur*innen bis hin zu Fachleuten in Marketing und Projektmanagement.
Gesucht werden Einsteiger, Profis, Generalisten
Bei Sunfire in Dresden etwa befasst man sich mit der Entwicklung und Produktion von Elektrolyseuren. Das 2010 gegründete Start-up ist stark gewachsen. Bei derzeit 500 Mitarbeiter*innen sucht das Unternehmen Mitte Dezember 2022 auf der Website Talente für rund 60 freie Stellen. „Verfahrenstechniker, Anlagenbauer, Elektrotechniker, Chemie-Ingenieure, Energietechniker“, zählt Michael Leithaus auf. Er ist bei Sunfire für das Recruitment von technischen Fachkräften zuständig. „Es gibt nicht die eine Kernkompetenz, die wir suchen. Wir brauchen motivierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit guten Fähigkeiten im ingenieurtechnischen Bereich und im Management. Wichtig ist, dass sie für die Sache brennen und teamorientiert arbeiten.“
Vor allem in den Bereichen Elektrotechnik und Anlagenbau sei es nicht ganz leicht, geeignete BewerberInnen zu finden, beschreibt der Recruiter. Deshalb arbeitet man bei Sunfire daran, KandidatInnen möglichst früh ans Unternehmen zu binden – man bemüht sich um guten Kontakt zu Hochschulen, ist auf Messen präsent und holt WerkstudentIinnen und PraktikantIinnen ins Unternehmen.
Dr. Gabriel Clemens zieht den Kreis sogar noch weiter. Bei E.ON baut er gerade als CEO den Geschäftsbereich „Grüne Gase“ auf. Und dieser Bereich sucht laut Clemens: „Eigentlich alles, was man studieren kann.“ Denn neben technischen Aspekten geht es in seinem Bereich auch viel um rechtliche und Regulierungsfragen – und ums Geschäft. Gerade hier muss noch viel ausgestaltet werden. Deshalb loben sowohl Leithaus als auch Becker die Vorzüge des Arbeitens in einer jungen Branche: „Bei uns kann man nicht nur einen echten Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel leisten – unsere Mitarbeitenden können die Prozesse im Unternehmen sogar noch aktiv mitgestalten“, sagt Leithaus. Und Clemens fügt hinzu, es brauche Start-up-Mentalität, unternehmerisches Denken und Frustrationstoleranz – trotz Zugehörigkeit zu einem großen Konzern. Seine Kollegin Karoline Becker, Senior HR Business Partner bei E.ON, ergänzt: „Man arbeitet nicht mit fertigen Lösungen, man entwickelt. Das erhöht auch die eigene Sichtbarkeit.“
Neue Jobs, neue Studiengänge
Um dem Mangel an Bewerberinnen und Bewerbern abzuhelfen, sind in den letzten Jahren an mehreren Standorten entsprechende Studiengänge zum Thema etabliert worden. Zum Beispiel an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt, wo Professor Winfried Wilke den Bachelor-Studiengang Wasserstofftechnik leitet. Ziel ist es, die Studierenden mit fächerübergreifendem Wissen über den Stoff und seine Handhabung zu versorgen. Nach dem Ende ihres Studiums sollen sie sowohl bei Wasserstoffproduzenten als auch bei Konstrukteuren, Dienstleistern, Anwendern oder Behörden arbeiten können, die mit dem Thema befasst sind. „Wir haben Workshops mit Unternehmen veranstaltet, die in diesem Bereich arbeiten“, beschreibt Wilke. So habe man gemeinsam die Studieninhalte identifiziert. „Wir haben das Wissen, das in diesem Bereich vorhanden ist, sinnvoll zusammengeführt.“
Anderswo, zum Beispiel an der Technischen Hochschule Ingolstadt oder der mit der Technischen Universität Dresden verbundenen Dresden International University kann man nach ähnlichen Konzepten seinen Master im Bereich „Wasserstofftechnologie und –wirtschaft“ erwerben. An letzterer geschieht das sogar berufsbegleitend in drei Semestern. Vorteil sei, dass Studierende ihr neues Wissen schon während ihrer Ausbildung nutzen können, heißt es aus Dresden.
Erfahrung aus fossilen Branchen kommt an
In den Unternehmen werden die neuen Ausbildungsgänge mit großem Interesse betrachtet: „Wasserstoff ist ein komplexes Thema“, erklärt Sunfire-Recruiter Leithaus, „Es braucht Fachkräfte mit übergeordnetem Blick.“ Und der Würzburg-Schweinfurter Professor Wilke berichtet von enorm vielen Industrie-Anfragen – und das, obwohl in seinem Studiengang erst in gut zwei Jahren die ersten AbsolventInnen fertig werden. Allerdings braucht es nicht nur jungen Nachwuchs für den Aufbau einer Wasserstoff-Wirtschaft. Sowohl bei Sunfire als auch bei E.ON betont man, man sei sehr bemüht, erfahrene MitarbeiterIinnen für die Wasserstoffbranche zu gewinnen, etwa gestandene ProjektleiterIinnen oder ManagerInnen. „Wer Vertrieb kann, kann Vertrieb“, sagt E.ON-Mann Clemens. „Das Produkt kann man jemandem beibringen. Aber Verhandlungsgeschick zum Beispiel kommt nur durch Erfahrung.“
So sind bei seinem Arbeitgeber auch schon MitarbeiterInnen aus den fossilen Sparten in Clemens‘ neuen Bereich gewechselt. Generell gelte: „Wenn jemand eine Grundlage in einem passenden Fach und dazu Branchenkenntnisse hat, dann ist das eine gute Voraussetzung, um bei uns zu starten.“ Professor Winfried Wilke sagt: „Viele werden neues Wissen erwerben müssen, wenn flächendeckend mit Wasserstoff gearbeitet wird. Auch Leute in Ausbildungsberufen: Anlagenbauer, Installateure, Heizungsleute oder KFZ-Mechatroniker.“
Wir springen wieder in die Zukunft: Auch, wenn die Elektrolyseure im Jahr 2030 niemanden brauchen, der vor Ort auf sie aufpasst – wenn die Prognosen stimmen, wird rund um das Thema Wasserstoff bis dahin wohl ein ganzer Mikrokosmos aus Arbeitsplätzen entstanden sein. Einer, der den Strukturwandel in anderen Branchen zumindest teilweise abfedern kann. Laura Ziegler, Manager Communications bei Sunfire, resümiert: „Es ist extrem spannend zu sehen, wie da eine ganz neue Branche entsteht“.
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