Herr Stoll, im April sind die letzten deutschen Atomkraftwerke vom Netz gegangen. Ist das das Ende der Kernenergie in Deutschland?
Es ist das Ende der Nutzung der Kernenergie zur kommerziellen Erzeugung von Strom in Deutschland. Das ist laut Gesetz jetzt untersagt. Aber wir haben weiterhin Forschungsreaktoren in Betrieb. Wir nutzen weiter Kernspaltung, zum Beispiel um Isotope für die Medizin herzustellen oder für Materialforschung – und wir haben eine breit aufgestellte Zulieferindustrie. Auch die Urananreicherungsanlage in Gronau ist voll ausgelastet. Dazu kommen Themen wie der Rückbau und natürlich die Entsorgung.
Wenn wir auf die Standorte schauen: Da ist die Rede davon, dass der Rückbau bis zu 20 Jahre dauert und eine Milliarde Euro kostet. Was passiert da, warum ist das so aufwändig?
Zunächst die Kosten: Da sind 80 Prozent Personalkosten. Ich war kürzlich am Standort Unterweser, wo 500 Leute beschäftigt sind. Da bin ich bei 20 Jahren schnell im Bereich von einer Milliarde Euro. Und zu den Aufwänden: Im ersten Schritt kommen die Brennelemente aus dem Reaktor in ein Abklingbecken, bis die Radioaktivität und damit deren Wärmeleistung weit genug reduziert ist. Nach fünf Jahren können sie umgeladen und an die Bundesgesellschaft für Zwischenlagerung übergeben werden. Dann erst ist das Kernkraftwerk brennstofffrei. Alle Sicherheitsanforderungen gelten in dieser Zeit noch. Parallel findet die „Full System Decontamination“ statt.
Was bedeutet das?
Man pumpt nach Möglichkeit durch alle Systeme eine chemische Lösung durch, um Ablagerungen auf den Oberflächen zu lösen. Damit fällt ein Großteil der restlichen Radioaktivität weg. Dadurch muss ich weniger Schutzmaßnahmen ergreifen, wenn das Kraftwerk im zweiten Schritt zerlegt wird.
Welche Hilfsmittel kommen dabei zum Einsatz?
Ziel ist es, die Menge an radioaktivem Abfall zu minimieren. Wesentlich beim Zerlegen ist daher die Überprüfung: Darf ein Teil in den normalen Schrott, in die Spezialentsorgung oder muss es ins Endlager? Um unter den Grenzwert zu kommen, kann man versuchen, die Oberflächenkontamination mit Hochdruckwasserstrahlen oder Sandstrahlen zu lösen. Das lässt sich mit Robotern teilweise automatisieren. Und es lohnt sich, weil dieser Prozess sich über Jahre hinzieht und Tausende Kilometer Rohrleitungen zerlegt werden.
Ist da ein Markt um den Rückbau entstanden?
Den eigentlichen Rückbau übernehmen oft kleinere Unternehmen, die vorher als Servicefirmen tätig waren. Auch im Betrieb werden ja Rohrleitungen getauscht, so viel anderes passiert da nicht. Allerdings wiegt ein Reaktordruckbehälter 350 Tonnen. Da braucht es sehr große Bandsägen, die von Spezialfirmen entwickelt werden. Auch für die „Full System Decontamination“ ist Spezialequipment und -wissen notwendig, etwa bei der Frage: Mit welcher Chemie geht man da ran? Das können nicht viele Firmen, das ist eine deutsche Domäne. Und wir haben die GNS, die unter anderem Endlagerbehälter und Sammelbehälter stellt. Also, ja, da ist im kleinen Umfang ein Markt entstanden. Aber es ist nicht die ganz große technische Herausforderung, ein Kraftwerk zu zerlegen.
Welches deutsche Know-how ist sonst im Ausland gefragt?
Die großen Nuklearexporteure bieten immer noch Serviceleistungen, die in der Welt gefragt sind. Im Bereich digitale Leittechnik haben wir langjährige Expertise. Und wir haben viel Zulieferindustrie, unter anderem für Sicherheitsventile und große Wärmeübertrager. Allerdings ist das Thema komplex, weil Exporte einerseits derzeit nicht durch Hermesbürgschaften gefördert werden und meines Wissens aktuell nur sehr wenige Exportgenehmigungen ausgestellt werden. Andererseits gibt es internationalen Druck, Russland als wichtigen Lieferanten zu ersetzen. Da ist deutsches Know-how notwendig.
Sie sagen, Deutschland brauche trotz Atomausstieg weiter Atomwissen. Warum?
Die Bundesregierung hat den Auftrag, die Bevölkerung vor den schädlichen Folgen der friedlichen Nutzung der Kernenergie zu schützen. Insofern muss Deutschland verstehen, was seine Nachbarn machen, wenn diese Laufzeiten verlängern oder Reaktoren planen. Wer mitreden will, braucht Expertise, sonst wird man nicht gehört. Das trifft auch zu, wenn wir an internationalen Regelwerken mitarbeiten wollen, etwa für Kleinreaktoren. Bis hin zu dem Punkt, falls es einen Zwischenfall in einem grenznahen Kraftwerk gäbe. Auch dann braucht es Wissen, um die Folgen abzuschätzen und effektive Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung in Deutschland treffen zu können.
Welche Voraussetzungen hat das?
Wie wir unsere Energie erzeugen wollen, ist eine politische Entscheidung. Das haben, glaube ich, auch im Bereich Kernenergie alle akzeptiert. Aber die Diskussion, womit man sich beschäftigt, sollte offen sein. Um international mitreden und gerade mit Blick auf die Sicherheit Einfluss nehmen zu können, müssen wir weiter auch an den innovativen Systemen forschen können, die vielleicht schon bald in unserer Nachbarschaft zum Einsatz kommen – an Universitäten, im System der Helmholtz-Gesellschaften und auch durch Organisationen wie die GRS.
Uwe Stoll...
… ist technisch-wissenschaftlicher Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS). Er hat Kerntechnik in Moskau studiert und war mehr als 20 Jahre in der Wirtschaft tätig, unter anderem für die Siemens AG und Framatome. Die GRS ist mehrheitlich in öffentlicher Hand. Sie forscht zur kerntechnischen Sicherheit, der Entsorgung radioaktiver Stoffe und dem Strahlenschutz.
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