Am Horizont von Huntorf drehen sich langsam die Rotoren der Windräder. Hier, eine knappe Dreiviertelstunde mit dem Auto von Bremen entfernt, gehört die Energiewende zum gewohnten Landschaftsbild: viel Windenergie in dünnbesiedelten Landstrichen, Naturschutzgebiete, die Weser in unmittelbarer Nähe. Auf den ersten Blick: alles wie immer, alles beim Alten.
Der Wandel hingegen ist auch auf den zweiten Blick hin kaum erkennbar, aber das ist ja meistens so beim Beginn wirklich großer Veränderungen. Und so fällt der Blick auf das Betriebsgelände des Energieversorgers EWE, der hier in Huntorf eine gigantische unterirdische Speicheranlage betreibt. Fassungsvermögen: 20 Millionen Kubikmeter, ein Volumen groß genug für den Kölner Dom. Bislang lagerte hier Erdgas im Untergrund. Doch seit Ende 2024 rüstet das Unternehmen einen seiner sieben Speicher um - auf Wasserstoff.
Wasserstoff im Salzgestein
Dabei profitiert EWE vom Salzgestein, das es vor allem in Nord- und Ostdeutschland gibt. Das prädestiniert die Regionen für den Bau von Kavernenspeichern. Entscheidender Vorteil: Das Gestein ist sehr geschlossen – und damit ideal für die Speicherung von Gasen geeignet. Eine dieser sogenannten „Kavernen“ wird das neue Zuhause auf Zeit für den Wasserstoff. Bis er bei Bedarf wieder ans Licht gepumpt wird. Um Deutschlands Energiewende voranzutreiben.
Die Klimaziele geben es vor: Deutschland soll seine Treibhausgas-Emissionen bis 2045 auf null absenken. Damit diese Aufgabe gelingt, muss der gesamte Energiesektor klimaneutral werden. Ein Schlüssel dafür: grüner Wasserstoff.
Dabei sind nicht nur dessen klimaneutrale Produktion und ausreichende Verfügbarkeit für den Erfolg entscheidend, sondern auch der Transport. Dafür baut Deutschland seit Jahresbeginn 2025 das Wasserstoffkernnetz. Für knapp 19 Milliarden Euro sollen bis zum Jahr 2032 über 9.000 Kilometer Leitungen entstehen. Die ersten Abschnitte entstehen bereits heute, um Produktionsstätten, Industriezentren, Speicher und Importkorridore miteinander zu verbinden.
Das Kernnetz wird der nächste Meilenstein der Energiewende, gefüllt durch Importe, Direkteinspeisung oder Speicheranlagen - wie in Huntorf.
„Grundsätzlich gibt es eine große Analogie zwischen Wasserstoffspeichern und Erdgasspeichern“, sagt Tobias Moldenhauer, Leiter Wasserstoff bei EWE AG. Das Unternehmen kann auf seine jahrzehntelange Expertise mit Erdgas setzen. Doch Unterschiede bleiben: Wasserstoff ist ein anderes Gas, mit anderen technischen Eigenschaften und dies verlange beispielsweise oberirdisch neue Verdichter, Aufreinigungen und Ventile. „Man kann nicht einfach den Hebel umlegen“, sagt Moldenhauer. Zusammen mit den Genehmigungsverfahren brauchen Umrüstung oder Neubau je nach Genehmigungsprozess zwischen drei und acht Jahren.
Das Kernnetz soll das Rückgrat einer kommenden Wasserstoffwirtschaft bilden. Speicher wie der in Huntorf übernehmen hierbei eine wichtige Aufgabe: Sie können Überschüsse aufnehmen und stellen Energie bereit, wenn danach Bedarf besteht. Auf diese Weise glätten sie Preisschwankungen und tragen zur Versorgungssicherheit bei. Doch zum Leben braucht es mehr. „Wasserstoff wird fliegen, wenn er über die gesamte Wertschöpfungskette optimiert wird“, sagt Moldenhauer und meint den Bezug von nachhaltigem Strom sowie Erzeugung, Speicherung und Transport von Wasserstoff vor allem zu den industriellen Verbrauchern.
Szenenwechsel. Während EWE bei der Speicherung Tatsachen schafft, baut das Energiewirtschaftliche Institut der Universität Köln an einem anderen, aber ebenso wichtigen Element für ein funktionierendes Wasserstoffnetz: Wissen. Mit einem Team von über 40 Mitarbeitern analysiert das EWI Energiemärkte: Welche Rahmenbedingungen benötigt ein Wasserstoffmarkt? Welche ökonomischen Zusammenhänge spielen beim Markthochlauf eine Rolle? Welche Produktionskosten sind zu erwarten? Und Ann-Kathrin Klaas kennt die Antworten.
Seit über einem Jahr leitet die 31-jährige die Forschungsbereiche Wasserstoff- und Erdgaswirtschaft und weiß um die Herausforderungen des Kernnetzes. Aber sie kennt auch die wirtschaftlichen Chancen. Bis zum Jahr 2030 soll laut Nationaler Wasserstoffstrategie die Nachfrage nach klimafreundlichem Wasserstoff stark ansteigen; konkret von 55 Terrawattstunden auf bis zu 130 pro Jahr. Ein Problem dabei: Die einheimische Produktion an Wasserstoff hält mit diesem Bedarf nicht Schritt. Es mangelt an genug erneuerbarer Energie. So muss Wasserstoff importiert werden – bis zu siebzig Prozent des Bedarfs, sagt Klaas – und durch das Kernnetz weitergeleitet werden.
Großes Potenzial bei Speicherung und Transit
Das wirtschaftliche Potential zur deutschen Wasserstoffproduktion schätzt eine Studie des EWI als durchschnittlich ein. Südeuropa habe längere Sonnenzeiten, Nordeuropa mehr Wind, beides sorge für höhere Volllaststunden der Elektrolyseure und damit geringere Kosten der Wasserstoffproduktion. Dennoch öffne das deutsche Kernnetz für den heimischen Wasserstoffmarkt besonders in zwei Bereichen ökonomische Möglichkeiten: Transit und Speicherung.
„Es gibt sehr gute Voraussetzungen, Speicherkapazitäten in Salzkavernen aufzubauen“, sagt Klaas. Deutschland sei perspektivisch nicht nur einer der größten Abnehmer für Wasserstoff, sondern könne mit seinen Speichern ein europäisches Wasserstoffnetz unterstützen. Vor allem sei die geografische Lage Deutschlands ein Standortvorteil – für den Transit.
Dafür müssen Politik und Wirtschaft über die Grenzen hinaus planen. „Das nationale Netz muss mit unseren Nachbarländern verbunden werden“, sagt Klaas, „wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht, kann es zu Ineffizienzen kommen.“ Vor allem bei einem entscheidenden Faktor für Wasserstoff: dem Preis. Ähnlich wie das bereits jetzt vorhandene europäische Energiesystem bei der Senkung nationaler Stromkosten helfe, müsse Vergleichbares bei Wasserstoff geschehen.
Zumal die Herausforderungen innerhalb Europas grundsätzlich gleich seien: „Wenn man Klimaneutralität erreichen will, ist Wasserstoff bei einigen Industriezweigen und Anwendungen die einzige Möglichkeit“, sagt Klaas. Es müsse aber effiziente Anreize geben für die Abnehmer. Zum Beispiel? Ob Investment- und Betriebskostenförderungen oder der Handel mit Co2-Preisen – Möglichkeiten gibt es viele, sagt Klaas. Entscheiden müsse die Politik.
In Deutschland ist diese Entscheidung bereits gefallen. Im Rahmen des Programms „Flow – making hydrogen happen“ stellt das Unternehmen GASCADE bereits in diesem Jahr eine seiner Gasleitungen auf den Transport von Wasserstoff um. Der Abschnitt von Lubmin an der Ostsee nach Bobbau in Sachsen-Anhalt umfasst fast 400 Kilometer und ist Teil des im letzten Jahr genehmigten Wasserstoffkernnetzes. Mit der Schaffung dieses Netzes, sagt Carina Gewehr, beantworte man die grundlegende Frage: „Was kommt zuerst – die Henne oder das Ei? Also: erst die Leitungsnetze oder der Wasserstoff?“
Und so wechseln Beschäftigte auf dieser Strecke in letzter Zeit häufiger Ventile und Armaturen, sammeln sich Gruppen von Ingenieuren und Technikern, vor allem an Gas-Verteilerstationen und Rohren. Kosten? Etwa 500 Millionen Euro.
Netzbetreiber und Politik gehen beim Kernnetz zusammen voran
„Mit dem Wasserstoffkernnetz, das am Zielmarkt ausgerichtet ist, gehen Deutschland und die beteiligten Netzbetreiber in Vorleistung“, sagt Gewehr. Auch wenn der allgemeine Bedarf an Wasserstoff in den nächsten Jahren steigen wird, wird die Netzauslastung am Anfang noch gering sein. Als Leiterin des Ressorts „Regulierung & Markt“ der GASCADE hat die 43-jährige den Entstehungsprozess des Kernnetzes eng mitverfolgt. Seit der endgültigen Genehmigung im Oktober 2024 schaffen Unternehmen wie GASCADE mit voller Kraft das Wasserstoffkernnetz - eine „Autobahn, die erst einmal da ist und dem Markt Planungssicherheit gibt“, wie Gewehr es ausdrückt.
Für den Hochlauf eines jeden Marktes müssen Angebot und Nachfrage zueinanderfinden. Das Wasserstoffkernnetz verbindet zwar Erzeuger und Anwender, die Verfügbarkeit und Wettbewerbsfähigkeit von Wasserstoff bleibe aber eine Herausforderung, sagt Gewehr. Der Markthochlauf müsse daher von der Politik durch entsprechende Anreize weiter unterstützt werden. Nichtsdestotrotz stellt Gewehr fest, gebe es bereits heute eine Reihe von Interessenten für die Einspeisung von Wasserstoff am Standort Lubmin, deren Projekte in den nächsten Jahren in Betrieb gehen sollen.
Besonders Lubmin entwickelt sich immer mehr zu einer Drehscheibe, sowohl für importierten als auch inländisch produzierten Wasserstoff. Bereits im nächsten Jahr soll dort auf See ein Importterminal in Betrieb gehen. Dann leiten Tankschiffe das Wasserstoff-Derivat grünes Ammoniak ein, das anschließend von sogenannten „Crackern“ wieder aufgespalten wird. Bis zu 30.000 Tonnen Wasserstoff sollen sie erzeugen, pro Jahr. Das kostbare Gas fließt dann in das Kernnetz, durch die Leitungen von GASCADE durch das Land.
Pipelines von den Importhäfen durch ganz Deutschland
Fast sechzig Prozent des Kernnetzes entstehen durch Umrüstungen bereits vorhandener Erdgasleitungen, die übrigen werden neu gebaut. Besonders volkswirtschaftlich ist die Umrüstung von Erdgasleitungen sinnvoll, statt das Kernnetz komplett neu zu bauen, da die Kosten einer Umrüstung um 90 Prozent geringer sind.
Die Umstellung bestehender Gasleitungen selbst dauert nur sechs bis zwölf Monate und ist technisch ohne größere Probleme realisierbar. Herausfordernder ist vielmehr, bestehende Kunden weiterhin sicher mit Erdgas zu versorgen und entsprechend auf andere Erdgasnetze umzuhängen, sie also über andere Leitungen zu versorgen.
„Flow – making hydrogen happen“ verfolge vorrangig das Ziel, Importe und heimische Wasserstoffproduktion im Norden mit Verbrauchszentren weiter südlich zu verbinden, sagt Gewehr. Auf über 1600 Kilometern wird Wasserstoff zu Industriezentren wie Chemie, Stahlproduktion, Raffinerien und Kraftwerken transportiert, um das Kernnetz an die geplanten Importhäfen an den Küsten anzuschließen.
„Mit dem Kernnetz-Modell und dem zu Grunde liegenden Regulierungsrahmen“, sagt Gewehr, „gehören wir zu den Vorreitern in Europa. Das gibt es so noch nicht und wird einen wichtigen Impuls für einen europäischen Wasserstoffmarkt geben.“
So wächst also wie in einem Daumenkino das Angebot von Wasserstoff in Deutschland. Rohr um Rohr im Kernnetz, Kaverne um Kaverne zur unterirdischen Speicherung.
Wie gesagt: Schritte, die auf den ersten Blick kaum erkennbar sind.
Aber am Ende umso bedeutsamer sein werden.
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