Welche Schulnote geben Sie der Ampelkoalition, wenn es um die Energiewende geht?
KERSTIN ANDREAE: Eine Zwei bis Drei. Wir haben viel erreicht beim Thema Genehmigungen und Ausbau, da sind Versäumnisse der Vergangenheit angegangen worden. Zur Energiewende gehören aber auch Antworten auf die Fragen nach Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit. Da ist vieles bisher noch nicht geschehen.
WOLFGANG GRÜNDINGER: Ich würde die Note „Zwei“ geben: weniger Bürokratie für Solar und Wind, deutlich größere Geschwindigkeit beim Netzausbau, der Smart-Meter- Neustart und das Solar-Spitzengesetz. Nicht zu vergessen auch die Meisterleistung, in der Gaskrise die Versorgung zu sichern. Also: In drei Jahren haben Minister Habeck und die Ampel doch mehr geschafft als so manche Koalition vor ihnen. Respekt.
FELIX MATTHES: Im englischen Schulsystem gibt es ja immer zwei Noten. Die erste Note beurteilt: Wo steht man? Da würde ich eine „Drei“ vergeben. Die zweite Note besagt, wie man sich im Vergleich zu seiner Ausgangsposition verbessert hat. Da gebe ich eine „Zwei“. In einigen Bereichen, vor allem bei den Themen Beschleunigung, Infrastruktur, Erneuerbare und Energiekostendämpfung gab es bemerkenswerte Fortschritte, es sind aber viele Versäumnisse auch noch nicht aufgeholt worden. Abzüge sehe ich – wie Kerstin Andreae - vor allem im Bereich der Versorgungssicherheit sowie beim Wasserstoffhochlauf.
DOMINIK WIRTH: Bei mir bekommt die Ampelkoalition eine solide „Drei“. Positiv bleibt neben dem Ausbau der Erneuerbaren vor allem auch die kommunale Wärmeplanung. Auf der anderen Seite sind die Planungs- und Genehmigungsverfahren immer noch ziemlich langsam und der Netzausbau hinkt hinterher.
Auch die Kommunikation war oft unglücklich. Das hat dazu geführt, dass die Akzeptanz nicht da ist, wo sie eigentlich sein sollte. Ich denke, wer ein „sehr gut“ will, muss seine Hausaufgaben machen und darf sich nicht ums Pausenbrot streiten.
Herr Wirth, als kommunaler Energieversorger haben Sie mit der Wärmewende eine Mammutaufgabe vor sich. Wie wollen Sie die stemmen?
DOMINIK WIRTH: Eine erfolgreiche Mammutjagd gelang bekanntermaßen in den meisten Fällen als Teamwork. Es braucht also eine gute Strategie, Zusammenarbeit und die richtigen Werkzeuge. Und so gehen wir das auch in Zwickau an. Unsere Wärme kommt schon heute zu 50 Prozent aus regenerativen Quellen. Aktuell versorgen wir etwa 20.000 Menschen mit Fernwärme – und das zu attraktiven Preisen. Das reicht uns aber nicht aus.
Dominik Wirth
ist seit 2023 kaufmännischer Geschäftsführer der Zwickauer Energieversorgung GmbH. Zuvor bekleidete er Positionen als Geschäftsführer der SÜWESA GmbH sowie der VWS Verbundwerke Südwestsachsen GmbH.
Wir wollen die Netze weiter verdichten, ausbauen und die Wärme noch nachhaltiger machen. Dafür brauchen wir von der Politik vor allen Dingen Stabilität in der Gesetzgebung statt politischer Experimente. Wärmenetze sind Langfristprojekte mit hohen Investitionen. Zu guter Letzt brauchen wir eine Förderung, die funktioniert. Ganz ehrlich: Wenn die Bundesförderung für effiziente Wärmenetze in Frage gestellt wird, steht für uns eigentlich auch die Wärmewende insgesamt infrage. Fördermittel müssen schneller fließen und dürfen nicht jedes Jahr auf der Kippe stehen.
Wie ist generell im Moment die Stimmung in der Branche?
KERSTIN ANDREAE: Die Stimmung ist verhalten. Das liegt vor allem an der Überregulierung, die wir in den vergangenen Jahren erlebt haben. Aber auch an der von Herrn Wirth angesprochenen Planungssicherheit, die aktuell noch nicht besonders berauschend ist. Die Energieversorger sind bereit, den Transformationspfad zu gehen und zu investieren. Das fiele jedoch wesentlich leichter, wenn wir aus der aktuell sehr kleinteiligen Regulierung herauskämen.
Und wir müssen uns auf Grundsatzentscheidungen verlassen können. Für uns sieht das klar so aus: Erneuerbare stehen im Zentrum des Stromsystems, Gas ist der Partner und perspektivisch Wasserstoff. Und deswegen ist jetzt auch der von Herrn Matthes angesprochene Wasserstoffhochlauf wichtig.
Herr Gründinger, bei ENPAL dürfte die Laune derzeit deutlich besser sein, oder?
WOLFGANG GRÜNDINGER: Wir sind gestartet mit Photovoltaik für Eigenheime und dabei inzwischen europäischer Marktführer. Heute verstehen wir uns als integriertes Energiewendeunternehmen: als Marktführer bei der Installation von Wärmepumpen sowie führend mit einer eigens entwickelten Software, die unsere Kunden am Strommarkt teilhaben lässt.
Außerdem unterstützen wir unabhängige Solar- und Heizungsbetriebe auf einer Plattform und bieten dort für mehr als 1.000 Betriebe Services, Dienstleistungen und Waren. Unser Ansatz ist es, aus Wettbewerbern mehr und mehr Partner zu machen. Denn die Energiewende schafft man nur gemeinsam. Insofern, um auf Ihre Frage zurückzukommen: Bei uns ist die Stimmung vergleichsweise gut.
Wir führen dieses Gespräch wenige Tage nach den Neuwahlen. In den Wahlprogrammen heißt es vielerorts, man müsse auf Technologieoffenheit setzen. Ist das vernünftig oder eine Schimäre?
FELIX MATTHES: Das klingt erst mal vernünftig, aber leider ist Technologieoffenheit zum Kampfbegriff geworden, der mehrere Dinge verkleistert. Da wäre erstens das Innovationsdilemma: Wie kann man mit den Dingen voranschreiten, die im Moment möglich sind - und dies nicht mit Verweis auf Dinge unterlässt, die in Zukunft vielleicht irgendwann mal möglich sein könnten. Man kann und sollte eben nicht in der vagen Hoffnung auf E-Fuels oder Fusionsreaktoren das heute Machbare links liegenlassen.
Zweitens verkleistert der Begriff Tatsachen: Viele der Energiewendeoptionen haben eine hohe Infrastrukturbindung. Das bedeutet, dass wir ein Stromnetz brauchen und zunehmend bekommen, das mit Elektromobilität und Wärmepumpen ebenso intelligent umgehen kann wie mit großen und flexiblen Industriebetrieben.
Und wenn wir kein funktionierendes Wasserstoffnetz haben, dann sind viele Ideen der industriellen Transformation Makulatur. Das sind alles Infrastrukturen, die oft einen Vorlauf von zehn bis 15 Jahren erfordern bis zur Realisierung. Wenn diese Infrastrukturen unter dem Begriff der „Technologieoffenheit“ dauerhaft unter den Vorbehalt des Provisoriums gestellt werden, ist das ein großes Problem. Die im Infrastrukturbereich erforderlichen hohen Investitionen werden so nicht befördert.
Das Gebäudeenergiegesetz zeigt, wie groß die Widerstände sind gegen zusätzliche Kosten für den Klimaschutz, vor allem, wenn es in den eigenen Heizungskeller geht. Die Union will es zurückdrehen. Welche Folgen hätte das?
KERSTIN ANDREAE: Es gibt eine Zeit vor und eine nach einer Wahl. Das wird jetzt ruhiger werden. Das sagenumwobene „Heizungsgesetz“ als solches gibt es ja gar nicht. Die Problematik beim Gebäudeenergiegesetz war immer, dass man Eigentümer und Vermieter in eine Entscheidungsnot bringt, die nicht sozialverträglich abgebildet ist. Die Frage ist nun: Wie kann man das Gesetz vereinfachen? Wie kann es praxistauglich werden? Wie ist sichergestellt, dass es auf kommunaler Wärmeplanung fußt?
Kerstin Andreae
ist seit November 2019 Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des BDEW. Zuvor war sie stellvertretende Fraktionsvorsitzende, wirtschaftspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN im Bundestag und Initiatorin sowie Koordinatorin des Wirtschaftsbeirates der Fraktion.
Die Wärmewende ist die Königsdisziplin der ganzen Energiewende. Das ist schon eine enorme Herausforderung, vor der wir da stehen. Nicht im Neubau, aber im Bestand. Wir als Verband haben uns gerade mit dem Wohnungsbau, der Immobilienwirtschaft, mit Gebäudeherstellern, Handwerkern und anderen Energieverbänden zusammengesetzt und einen Appell für mehr Planungssicherheit formuliert. Damit wir jetzt eben nicht die Augen verschließen und zurück auf „Los“ gehen.
WOLFGANG GRÜNDINGER: Genau. Es geht ja gar nicht um die Rücknahme des Gebäude-Energiegesetzes insgesamt. Das wäre auch skurril, denn das Gesetz hat die CDU 2019 ja mit beschlossen - damals übrigens mit sehr geringer medialer Aufregung. Sondern es geht tatsächlich um den Paragrafen 71, der eben regelt, welche Bedingungen eine neue Heizung erfüllen muss. Und dort gibt es eine Liste mit sieben Heizungstypen, die ausdrücklich immer von vornherein schon mal erlaubt sind. Davon ist die Wärmepumpe eben nur eine.
Und ich bin sehr froh, dass die Wärmepumpe immer mehr in der Breite der Gesellschaft ankommt. Die Wärmepumpe kennt übrigens keine Parteifarbe: Die meisten Wärmepumpenbesitzer haben CDU gewählt und eben nicht grün. Und daher denke ich, dass es auch unter einem Kanzler Friedrich Merz keinen Fadenriss geben wird. Merz war übrigens letztes Jahr bei der Einweihung unserer Wärmepumpen-Akademie im brandenburgischen Blankenfelde als Gast bei der Eröffnung dabei und hat sich für die Planungssicherheit bei der Wärmepumpe ausgesprochen.
A apropos Parteifarbe: Herr Wirth, wie stemmt man die Wärmewende in einer Region, wo die AfD stark ist?
DOMINIK WIRTH: Das Hauptproblem ist, dass die Energiewende für viele Menschen abstrakt bleibt und als politisches Top-down-Projekt wahrgenommen wird. Dort versuchen wir anzusetzen. Wir holen die Menschen mit ins Boot, suchen den direkten Dialog und zeigen die konkreten Vorteile der Energiewende für die Region. Ohne Schönfärberei, aber auch ohne Schreckens-Szenarien. Weil aus unserer Sicht die Energiewende eine riesige Chance in sich birgt.
Ein Beispiel: Kein Verbraucher interessiert sich für einen Primärenergiefaktor von 0,38. Das bringt dem Einzelnen erst mal nichts. Aber wenn wir erklären, dass unsere Fernwärme die CO2-Kosten senkt und dadurch langfristig günstiger ist als Gas, dann wird das für den Einzelnen eben auch greifbar. Unser Ansatz ist klar: Weniger ideologische Grabenkämpfe, mehr pragmatische Lösungen.
Markus Söder (CSU) macht sich gerade dafür stark, die Erreichung der Klimaziele zu verschieben. Wie sehen Sie das?
FELIX MATTHES: Diese Diskussion um das Klimaziel ist eine Mischung aus skurril und gefährlich. Warum ist es skurril? Unsere Klimapolitik wird im Wesentlichen durch europäische Regelungen bestimmt. Im Europäischen Emissionshandelssystem für Energiewirtschaft und energieintensive Industrien werden im Jahr 2038 das letzte Mal Zertifikate ausgegeben.
Und wir werden hoffentlich im Jahr 2027 ein zweites europäisches Emissions-Handelssystem bekommen, das den Straßenverkehr umfasst und alle anderen stationären Anlagen. In diesem System werden im Jahr 2042 zum letzten Mal Zertifikate ausgegeben. Das heißt, Klimaneutralität im Energiesektor – und der wird ja vor allen Dingen betrachtet – ist in jedem Fall, und zwar auch europaweit, vor 2045 gesetzt. Wer das verschieben will, muss an diese europäischen Instrumente ran.
Dr. Felix Matthes
ist seit 1991 beim Öko-Institut und verantwortlich für die Gründung des Berliner Büros. Seit 2009 bekleidet er die Position des Forschungskoordinators für Energie- und Klimapolitik an diesem Institut, 2007/2008 wirkte er als Gastwissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology (Joint Program on the Science and Policy of Global Change).
Und das ist der Übergang zwischen dem Skurrilen und dem Gefährlichen. Wenn man diese Diskussion jetzt anfängt, dann wird das dazu führen, dass wir die beiden mächtigsten europäischen Instrumente, die wir haben, und letztlich auch nicht nur diese, massiv beschädigen werden. Wenn das passiert, dann ist das ganz schlecht für Klimapolitik und Klima. Es ist aber vor allem schlecht für alle diejenigen, die schon viele Milliarden im Vertrauen auf diese Instrumente investiert haben.
Eine der wohl wichtigsten Fragen der Branche: Wie muss das Strommarktdesign der Zukunft aussehen?
WOLFGANG GRÜNDINGER: Das neue Solarspitzen-Gesetz hat da ja schon den Anfang gemacht. Also mehr Markt- und Netzintegration der Erneuerbaren in das System. Neue Solaranlagen bekommen jetzt zum Beispiel keine staatliche Vergütung mehr in Zeiten negativer Strompreise. Das bedeutet zwar einen Einnahmeverlust für diejenigen, die sich jetzt heute eine neue Solaranlage kaufen. Es ist aber wichtig, um systemisch endlich die Speicher für das System nutzbar zu machen und von der staatlichen Förderung ein Stück wegzukommen.
Solar muss sich im Markt beweisen - das kann es auch. Man braucht eben eine intelligente Steuerung, die dann einspeist, wenn der Strom im Netz auch wirklich gebraucht wird und andersherum eben die Speicher dann aus dem Netz lässt, wenn mehr als genug Strom da ist und man nicht weiß, wohin damit. Und das machen die alten Solaranlagen, die im Bestand momentan sind, eben meistens noch nicht. Daher ist das Solarspitzen-Gesetz ein ganz wichtiger Schritt nach vorne.
KERSTIN ANDREAE: Ein modernes Strommarktdesign muss mehrere Dinge gewährleisten: mehr Markt und einen verlässlichen Kohleausstieg bei garantierter Versorgungssicherheit. Da geht es um den Zubau gesicherter Leistungen, die Integration der Erneuerbaren und Flexibilitäten. Ich glaube, es sind sich inzwischen alle einig, dass der Energy-Only-Markt nicht die Lösung ist, sondern dass es eine Form des Kapazitätsmarktes braucht: Die Hauptrolle spielen die Erneuerbaren – und für die Absicherung brauchen wir große Kraftwerke, die wir schnell hochfahren können sowie Flexibilitäten und Speicher.
DOMINIK WIRTH: Ich würde gerne noch ergänzen, dass wir Netzentgelte verursachergerecht gestalten müssen. Aktuell zahlen Haushalte und Gewerbekunden überproportional viel, während Großverbraucher und Prosumer eher entlastet werden. Das muss zeitgemäßer gestaltet werden. Die nächste große Frage: Was wird mit dem Merit-Order-Prinzip? Es steht immer wieder in der Kritik wegen den extremen Preissprüngen, die es erzeugen kann. Andererseits hat es sich in Krisenzeiten bewährt.
FELIX MATTHES: Ja, definitiv und gerade deswegen: Hände weg von der Merit Order! Sie generiert uns Preissignale, die wir in diesem künftigen Markt dringend brauchen. Ein System mit vielen Millionen Teilnehmern funktioniert nur über Märkte und Preise. Zweitens brauchen wir – Kerstin Andreae hat es gesagt - einen Kapazitätsmarkt, und zwar einen, der uns schnellstmöglich 30 Gigawatt steuerbarer Kraftwerke beschafft.
Für die Integration erneuerbarer Energien werden wir in ein System kommen müssen, wo die Finanzierung, die wir lange brauchen werden bei erneuerbaren Energien, deutlich kapazitätsorientierter als heute ist. Viertens: Netznutzungsentgelte müssen dynamischer werden und perspektivisch sinken. Außerdem werden wir Lokalisierungs-Signale schaffen müssen, damit wir die räumliche Verteilung von Speichern, von Erzeugung und von Verbrauch irgendwie besser hinkriegen.
Und das Letzte ist eine Voraussetzung für alles, nämlich Digitalisierung. Wenn wir in der Digitalisierungswüste des deutschen Stromsystems hängenbleiben, wird nichts von alledem funktionieren.
Blicken wir ins Ausland: Donald Trump hat „Drill, Baby Drill“ ausgerufen. Machen die USA die Rolle rückwärts beim Klimaschutz?
WOLFGANG GRÜNDINGER: Ich denke nicht. Ausgerechnet das konservative Texas, Hochburg der Republikaner, ist der Top-Staat für Solar und für Wind. Das progressive Kalifornien folgt erst danach. Weltweit wird doppelt so viel in Erneuerbare und Speicher investiert wie in fossile Energie. Ich bin daher fest überzeugt: Die Energiewende wird weitergehen, egal wer regiert. Auch der Regierungswechsel wird den Ausbau der Erneuerbaren nicht stoppen.
Aber klar, der Anti-Klima-Kurs von Trump vertreibt Talente und Kapital aus den USA. Und Clean-Tech-Investitionen in den USA werden riskanter. Es wird also in den USA viel Talent und Kapital frei. Warum soll das nicht nach Europa fließen? Mein dringendes Plädoyer wäre, dass wir hier so schnell wie möglich eine Anwerbe-Kampagne starten für Wissenschaftler, für Talente, für Unternehmen aus den USA, die dem Trump-Kurs nicht folgen möchten. Die USA haben Jahrzehnte lang europäische Talente ins Silicon Valley abgezogen – warum sollte es nicht mal in die andere Richtung gehen?
FELIX MATTHES: Trump kann schon eine Menge Sand ins Getriebe werfen. Aber am Ende des Tages wird er sich nicht durchsetzen, weil es zu viele Gewinner bei den Erneuerbaren gibt. Die Begeisterung für „Drill, baby, drill“ ist in der Wirtschaft begrenzt. Es gibt durchaus auch Ölkonzerne, die Trump geraten haben, nicht aus dem Pariser Klimaabkommen auszusteigen. Wir sind im Bereich der Stromerzeugung auf einem relativ guten Weg.
Was die Wasserstofffrage angeht, bin ich im Moment nicht so optimistisch. Wenn man sieht, welche Milliardeninvestitionen in China und in Japan in den Wasserstoffsektor gehen und wie wir uns da gerade zurückziehen, stimmt mich das nicht gerade froh.
DOMINIK WIRTH: Populismus funktioniert immer dann besonders gut, wenn komplexe Themen auf einfache Feindbilder reduziert werden. Und das passiert, wenn man die Energiewende als elitäres Projekt darstellt. Ich sehe das genauso wie meine Vorredner: Langfristig werden Fakten den Kurs bestimmen, nicht die Parolen.
Wenn wir schneller zu den Fakten kommen wollen, müssen wir die Energiewende so gestalten, dass sie für alle greifbar wird. Sozialverträglichkeit und klare Nutzenkommunikation sind dabei entscheidend. Denn wer Vorteile sieht, wird sich nicht so leicht von einfachen Feindbildern leiten lassen.
FELIX MATTHES: Absolut! Wir brauchen mehr denunziationsfreie Räume, in denen wir über Energiewende reden. Der Bundestag würde in der nächsten Legislaturperiode gut daran tun, eine Enquetekommission Klimaneutralität einzusetzen, in der wir jenseits realitätsferner Narrative miteinander sprechen.
Sehen Sie das Risiko, dass die Energiewende zwischen all den anderen Themen, vor allen Dingen jetzt Ukraine, Krieg und Migration, unter die Räder gerät?
KERSTIN ANDREAE: Der Wahlkampf hat gezeigt, dass das Thema Energiewende gerade nicht die erforderliche Präsenz in den Köpfen hat. Darüber können wir natürlich jammern. Wir können aber auch versuchen, das Thema mal in ein nüchternes Fahrwasser zu bekommen. Die Energiewende ist ein breiter Fluss, der fließt, wenn auch aktuell noch zu gemächlich. Im Grundsatz sind viele wichtige systemische Entscheidungen bereits gefällt. Und wir sehen Erfolge! Schon jetzt haben wir regelmäßig 50 Prozent Erneuerbare im Strommix.
Ein letzter Gedanke noch zum Thema Wasserstoff: Was ich mir sehr, sehr wünschen würde, ist, dass wir auf europäischer Ebene, gerade vielleicht auch als Antwort auf die Entwicklungen in Amerika, eine Wasserstoff-Allianz hinbekommen, die diesen Namen verdient hat. Eine Allianz, die angeführt wird von Deutschland, weil Deutschland sich entschieden hat, dass Wasserstoff der Partner ist. Ich werbe dafür, dass wir den Wasserstoffhochlauf wirklich wollen und auch mit Geld hinterlegen. Ja, wir sollten über die Energiewende nicht nur aus Klima-, sondern auch aus Wirtschaftsgesichtspunkten sprechen.
WOLFGANG GRÜNDINGER: In der nächsten Legislaturperiode wird die Energiewende so oder so eine gewaltige Rolle spielen. Auch wenn sie vielleicht gar nicht so heißen wird. Erstens tritt die nächste Stufe des Emissionshandels in Kraft. Das macht Gas und Benzin teurer, regenerative Energien günstiger. Zweitens wachsen Wind und Solar weiter stark und müssen ins Netz integriert werden.
Dr. Wolfgang Gründinger
ist Chief Evangelist bei Enpal. Er ist Climate Reality Leader trainiert von Al Gore und engagiert sich bei der Deutschen Gesellschaft Club of Rome, dem World Economic Forum und den Scientists For Future. Die Zeitschrift “Capital” zählte ihn zweifach zu den “Top 40 unter 40”.
Und drittens nutzt Russland seine Öl-Schattenflotte, um die Sanktionen zu umgehen und seine Wirtschaft zu schmieren. Das will hier niemand. Daher wird die Energiewende weitergehen, auch wenn sie vielleicht jetzt Resilienzpolitik oder Marktintegration genannt wird.
FELIX MATTHES: Ich glaube, zwei Sachen werden entscheidend sein. Wir werden erstens akzeptieren müssen, dass wir uns am Beginn einer neuen Phase der Energiewende befinden. Ab jetzt wird das Ganze deutlich konsumentennäher und im konsumentennahen Bereich gelten komplett andere Spielregeln.
Zweitens sage ich noch mal: Wir kriegen es für die Transformation der Industrie und des Stromsystems mit Wasserstoff zu tun. Wir müssen für eine neue Commodity einen komplett neuen Markthochlauf organisieren unter Wettbewerbsbedingungen. Das haben wir noch nie gemacht, denn alle anderen Energie-Commodities sind seinerzeit im Monopol entwickelt worden. Da gibt es komplett neue Spielregeln.
Im Übrigen stimme ich Herrn Gründiger zu: Energiepolitik wird mehr und mehr zur Resilienzpolitik werden.
DOMINIK WIRTH: Der Wahlkampf hat gezeigt, dass in der Politik Themen immer wieder gegeneinander ausgespielt werden. Aus meiner Sicht ist es ein Riesenfehler, eine Herausforderung zu Lasten einer anderen zu priorisieren. Ich denke, dass wir viele Themen vor der Brust haben. Wir brauchen einen gerechten Frieden in der Ukraine.
Wir brauchen eine Migrationspolitik mit klaren Regeln und humanistischen Werten. Und gleichzeitig müssen wir den Ausbau unseres Energiesystems konsequent vorantreiben. Das darf auf keinen Fall hinten runterfallen. Und die neue Bundesregierung? Die steht vor vielen Aufgaben. Aus meiner Sicht ist entscheidend, dass sie alle diese Aufgaben mit gleicher Priorität bedient.
Vielen Dank für das Gespräch.
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