Die 1980-er Jahre waren eine Zeit, in der in Europa vieles zusammenwuchs. Wer Bürger eines EU-Landes ist, der darf seitdem überall im Gebiet der Gemeinschaft wohnen und arbeiten. Durch das Schengener Abkommen fielen an vielen Grenzen Europas die Kontrollen weg. Und intensiv wurde die Schaffung einer gemeinsamen Währung vorbereitet.
Auch in Sachen Elektrizitätsversorgung rückte Europa näher zusammen. Durch eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen wurde ab den neunziger Jahren der Strommarkt innerhalb der EU zum einen liberalisiert – Verbraucher sollten nun nicht mehr von „ihrem“ Versorger abhängig sein, sondern den Lieferanten unter mehreren aussuchen können. Zum anderen wurde die bisher nationale Versorgung europäisiert – durch das Knüpfen eines grenzüberschreitenden Netzes.
Versorgungssicherheit und Effizienz im Fokus
„Damit hat man zwei Ziele verfolgt“, sagt Katharina Umpfenbach, die bei der Deutschen Energie-Agentur (dena) das Arbeitsgebiet Infrastruktur und Gesamtsystem leitet. „Einmal ging es um Versorgungssicherheit. In einem größeren System lassen sich Erzeugungsengpässe besser kompensieren. Zum zweiten ist dieses große Netz effizienter. Denn es erlaubt es, Strom dort zu produzieren, wo das gerade am günstigsten möglich ist, und ihn von dort zu den Abnehmern zu transportieren.“
Durch die Liberalisierung und Vernetzung wurde Strom stärker als davor zu einer Handelsware. Allerdings zu einer, für die besondere Bedingungen gelten. Denn Einspeisung und Entnahme müssen im Netz immer im Gleichgewicht sein. So teilt sich der Handel in vier Bereiche auf: Der größte Teil der Stromlieferungen wird per Terminkontrakt weit im Vorhinein vereinbart. Daneben existieren Märkte für Lieferungen am jeweils nächsten Tag (Day Ahead) oder am gleichen (Intraday). Um das Netz darüber hinaus kurzfristig immer wieder ins Gleichgewicht zu bringen, wird darüber hinaus die so genannte Regelenergie gehandelt, die im Extremfall binnen Sekunden zur Verfügung stehen muss.
Dieses System in der Balance zu halten, wird durch den Ausbau der Erneuerbaren Energien immer komplexer. Denn volatile Energieerzeugung durch Sonne und Wind lässt sich schlechter im Vorhinein planen als die konventionellen Großkraftwerke alter Bauart. Um so wichtiger ist eine robuste, grenzüberschreitende Infrastruktur geworden. Denn sie erlaubt es, Strom zum Beispiel aus windreichen Gegenden über weite Strecken in andere zu leiten, in denen gerade Flaute herrscht.
Infrastrukturen werden immer wichtiger
Seit der Liberalisierung werden die Transportwege daher immer weiter ausgebaut. Allerdings gibt es immer noch Engstellen in der Infrastruktur. Daher ist Europa in verschiedene Strompreiszonen aufgeteilt, die der Tatsache Rechnung tragen, dass aus Kapazitätsgründen nicht unbegrenzt viel Elektrizität von Überall nach Überall geleitet werden kann.
„Die Grenzkuppelstellen zwischen den einzelnen Ländern sind oft immer noch Nadelöhre“, sagt Leonhard Probst. Er arbeitet am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme und ist Mitbetreuer der Website energy-charts.info, die eine Fülle von Informationen zum europäischen Stromnetz liefert.
Grafik: Interkonnektoren in Deutschland
Auch zu den unterschiedlichen Börsenstrompreisen der einzelnen Zonen findet man dort aktuelle Zahlen. Große Preisunterschiede zwischen den Zonen sind Indizien dafür, dass der Transport hier schwierig ist. So schlagen sich natürliche Hindernisse wie die Alpen oder die Pyrenäen in Preisunterschieden nieder. Auch Seekabel haben geringere Kapazitäten – und die relativ neuen EU-Mitglieder in Südosteuropa sind in der Regel schlechter angebunden als das europäische Kernland. „Man kann sich das als gemeinsames Gebäude vorstellen“, sagt Mirko Schäfer vom Institut für Nachhaltige Technische Systeme der Universität Freiburg. „Anbieter und Käufer sitzen in unterschiedlichen Räumen, aber handeln in einem gemeinsamen Markt. Allerdings muss der Marktbetreiber auch sicherstellen, dass die Strompakete jeweils durch die Türen passen“
Gelegentlich gibt es im Integrationsprozess daher auch Rückschritte zu verzeichnen. So wurde die gemeinsame Strompreiszone zwischen Deutschland und Österreich im Jahr 2018 wieder aufgelöst. „Diese Preiszone reflektierte in manchen Situationen die Realität nicht mehr“, sagt Konstantin Lenz, Professor für Energiewirtschaft an der FH Erfurt. Denn durch die gemeinsame Zone hatten sich die Betreiber von Pumpspeichern in Österreich beispielsweise mit günstigem norddeutschen Windstrom versorgen können, der sich wegen Leitungsengpässen aber in der Realität nicht nach Österreich transportieren ließ.
Redispatch als Flexibilitätsoption
In solchen Fällen kommt es zu einem so genannten Redispatch: Stromerzeuger vor der Engstelle werden vom Netz genommen, um die Leitungen nicht zu überlasten. Und um den fehlenden Strom hinter der Engstelle auszugleichen, werden dort Kraftwerke hochgefahren, um die Lücke zu schließen. Da beim Redispatch Entschädigungen für den nicht abgenommenen Strom fällig werden, verursacht das Verfahren Kosten, die man durch die Trennung der Preiszonen vermeiden wollte.
Damit so etwas der Vergangenheit angehört, wird das europäische Stromnetz kontinuierlich weiter ausgebaut. Am Ende könnte dann eine große Preiszone stehen, in der Elektrizität ohne Transportengpässe grenzenlos von Nord nach Süd und von Ost nach West gehandelt werden kann – europaweit würde der niedrigstmögliche Börsenpreis für Strom gelten.
Das wäre ein Gewinn für alle. Allerdings würde das nicht bedeuten, dass EU-weit einheitliche Verbraucherpreise gelten, betonen die Experten. Denn jedes Land entscheidet für sich, inwieweit der reine Beschaffungspreis für Strom mit Entgelten, Steuern oder Abgaben belastet wird. In Deutschland machen diese zum Beispiel rund die Hälfte des Verbraucherpreises aus. „Außerdem hat Deutschland traditionell niedrige Grundgebühren und hohe Preise pro verbrauchte Kilowattstunde“, sagt Leonhard Probst. „In Frankreich zum Beispiel hat dagegen die Grundgebühr einen relativ hohen Anteil am gesamten Strompreis.“
Außerdem bedeutet ein europaweiter Strommarkt naturgemäß, dass manche Nationen mehr produzieren, als sie verbrauchen, während andere die heimische Produktion mit Importen aus dem Ausland ergänzen. Eins betonen dabei aber alle Experten: Man dürfe Wirtschaftlichkeit nicht mit Versorgungssicherheit verwechseln. „Wir haben in Deutschland weiterhin genug Kapazitäten, um die bekannten Spitzenlasten zu bewältigen“, so Katharina Umpfenbach von der dena. „Es ist nur häufig finanziell günstiger, Strom im Ausland einzukaufen, als ihn teurer im Inland zu produzieren.“ Denn darum gehe es schließlich beim gemeinsamen europäischen Strommarkt: die Versorgung für alle angeschlossenen Länder sicherer und günstiger zu machen.
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