Es war ein herrlicher Sommertag, perfekt für eine Weltpremiere. Am 5. Juli 2021 wurde in Tartu, der zweitgrößten Stadt in Estland, das erste fahrerlose Wasserstofffahrzeug öffentlich vorgestellt. Der Shuttle bietet Platz für sechs Personen und ist mit maximal 30 km/h etwas schneller als ein Mofa. Per Fernbedienung kann jederzeit auf den Fahrtverlauf eingegriffen werden. Forschende und Studierende der Universität Tartu entwickelten ihn gemeinsam mit dem Start-up Auve Tech. Nach gut einem Jahr war er fertig. Die damalige estnische Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid stieg als Erste ein und war begeistert: "Niemand auf der Welt hat bisher Zeit und Ressourcen darauf verwendet, zwei parallele Entwicklungen im Verkehr zusammenzubringen – autonomes Fahren mit Fernsteuerung und Wasserstoffantrieb.“
Vor dreißig Jahren deutete nichts darauf hin, dass Estland einmal zu den fortschrittlichsten Ländern der Welt gehören sollte: bei digitalen Lösungen, beim Thema Cybersicherheit und beim Klimaschutz. Lange Zeit war Estland der größte Schmutzfink in Europa – mit einer katastrophalen Klimabilanz. Strom wurde aus klimaschädlichem Ölschiefer gewonnen und viel CO2 ausgestoßen.
Mittlerweile hat sich das geändert. Das Land investiert massiv in Klimaschutz und hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Bis 2030 soll Strom zu 100 Prozent aus Erneuerbaren Energien gewonnen werden, vor allem aus Windkraft. Im Klimaschutz-Index 2024 gehört Estland zu den Aufsteigern. Innerhalb von sieben Jahren verbesserte es sich von Platz 50 auf Platz fünf. Deutschland liegt aktuell auf Platz 14.
Das kleine Estland rühmt sich gerne, in kurzer Zeit große Dinge zu tun. Man setzte schon früh auf Digitalisierung und KI, bei der Verwaltung und im Verkehr. Nun sollen KI und Wasserstoff kombiniert werden, um den CO2-Ausstoß zu verringern. Der öffentliche Verkehr, schwere Lastkraftwagen, die Eisenbahn, die Schifffahrt und die Luftfahrt sollen künftig von Brennstoffzellen angetrieben werden. Um Lösungen dafür zu entwickeln, wurde das Technologie- und Innovationszentrum Hydrogen Valley Estonia gegründet.
Nie mehr aufs Amt
Estland hat seit seiner Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Jahr 1991 große Veränderungen hinter sich. Als das Land bei null anfangen musste, standen der Wiederaufbau von Schulen, Verwaltung, Verkehr und Justiz im Vordergrund. Doch die Regierung hatte kein Geld. Deshalb lautete die Devise: schlank, kostengünstig, digital. Heute ist die Verwaltung zu 99 Prozent digitalisiert und die Estinnen und Esten können fast alles online machen. Aufs Amt geht kaum noch jemand. Möglich macht das eine digitale Identität.
Die Tigersprung-Initiative
Mit dem landesweiten Investitionsprogramm "Tiigrihüpe" („Tigersprung“) startete 1996 das digitale Zeitalter. Innerhalb von fünf Jahren waren alle Schulen mit Computern und Internet ausgestattet. Auch Verwaltung und Industrie wurden digitalisiert. Ausmaß und Geschwindigkeit beeindruckten andere Länder und ausländische Unternehmen. Sie vertrauten auf die Lösungen aus Estland. Das brachte dem Land wirtschaftlichen Aufschwung und stärkte die Akzeptanz in der Bevölkerung.
Tempo bei der Energiewende
Estland ist stolz auf seine digitale Infrastruktur und möchte nun Tempo bei der Energiewende machen, wie Ministerpräsidentin Kaja Kallas sagt: "Als innovatives Land sieht Estland den grünen Wandel als die nächste große Chance, ein besseres Lebensumfeld für unsere Bürger zu schaffen.“ Die Regierung setze dabei auf digitale Lösungen in den Bereichen Energieeffizienz, Smart Cities, Datenmanagement und Kreislaufwirtschaft, um die Klimaziele zu erreichen.
Bei der Energiewende setzt Estland auf Windkraft und Wasserstoff. Durch seine vielen Inseln hat es etwa 3.800 Kilometer Küstenlinie. Das bietet viel Potenzial für Offshore-Windparks. Gebiete, in denen sie errichtet werden sollen, werden versteigert. Auch an Land werden immer mehr Projekte umgesetzt und entwickelt. Ein Grund dafür: Bis 2027 fallen die Höhenbeschränkungen für Windräder weg. Schätzungen gehen davon aus, dass Estland in einigen Jahren mehr Strom durch Windkraft produzieren könnte als es für den eigenen Markt benötigt.
Estland, das etwa so groß ist wie Niedersachsen, aber nur 1,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählt, hat damit die Chance, zu einem Exporteur von grünem Strom und von grünem Wasserstoff zu werden. Davon könnte Deutschland profitieren. Denn nur mit Wasserstoff lassen sich Teile der Industrie dekarbonisieren. Auch beim Ausbau der Stromverbindungen geht es zwischen beiden Ländern voran. Das deutsche Unternehmen 50Hertz und das estnische Unternehmen Elering planen das hybride Seekabelprojekt Baltic WindConnector. Dieses etwa 750 Kilometer lange Kabel soll durch die Ostsee von Estland bis nach Mecklenburg-Vorpommern führen und Windstrom ins europäische Netz einspeisen. Mit einem Hybrid-Interkonnektor speisen Windparks ihren Strom in ein Übertragungsnetz ein, das auch für den europäischen Stromhandel genutzt werden kann.
Dabei muss das Land aber auch seine eigenen Stromnetze ausbauen. Noch gehört Estland – wie die beiden anderen baltischen Staaten Lettland und Litauen – zum russischen Stromverbund BRELL. Im Jahr 2025 soll der Wechsel in den europäischen Verbund erfolgen. Um die Stromversorgung im Land sicherer zu machen, arbeitet das estnische Unternehmen Elektrilevis, das mehr als 700.000 Stromzähler verwaltet und über 95 Prozent des Verteilnetzes betreibt, mit dem deutschen Unternehmen envelio zusammen. Gemeinsam wird eine Intelligent Grid Plattform aufgebaut.
Was kann Deutschland von Estland lernen?
Beim Blick auf die Arbeit estnischer Behörden fällt auf: Kompetenzgerangel zwischen Bund und Ländern gibt es nicht. Das erleichtert den Entscheidungsprozess. Die technische Ausstattung und die digitale Infrastruktur, die Daten dezentral speichert und Behörden, Banken, Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger vernetzt, lässt Experten hierzulande anerkennend nach Estland blicken. "Der größte Kritikpunkt ist, dass der Bund nicht von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, Standards zu setzen", kritisierte Lutz Goebel, Vorsitzender des Normenkontrollrats, schon vor zwei Jahren. Die rund 11.000 deutschen Kommunen nutzen weiterhin eine Vielzahl an Softwareanwendungen. Eine Lösung mit universellen Schnittstellen ist nicht in Sicht. Auch zwei Jahre später nicht. Lutz Goebel: „Bund, Länder und Kommunen verheddern sich in einem Dickicht technischer Insellösungen und Zuständigkeitsfragen, während gleichzeitig Haushaltsmittel schrumpfen und IT-Fachkräfte fehlen“. Deutschland braucht mehr Mut, mehr Tempo, mehr Verbindlichkeit. Estland zeigt, wie es geht.
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