Herr Südekum, es müssen enorme Summen in die Hand genommen werden, um alle unsere Herausforderungen zu bewältigen. Sollten wir die Schuldenbremse abschaffen?
Abgeschafft werden muss sie nicht, aber sie braucht ein Update, eine Reform. Sie passt einfach nicht mehr ins Hier und Jetzt und zu den Herausforderungen, die sich heute stellen, wenn der Staat als Akteur handlungsfähig bleiben will.
Was ist der größte Nachteil, den uns die Schuldenbremse bringt?
Wir haben aktuell ein ziemlich striktes Verbot von struktureller Neuverschuldung, wenn man mal von den 0,35 Prozent des BIP absieht, die die Schuldenbremse uns noch gestattet. Sie ist in der Form, wie sie seit 2009 in unserer Verfassung steht, komplett blind für die Frage, wofür eigentlich Schulden gemacht werden sollen, aber auch für den makroökonomischen Kontext, in dem wir uns gerade bewegen. Damit berücksichtigt sie weder den konkreten Schuldenstand noch die Zinsen und den möglichen Verwendungszweck der Schuldenaufnahme. Das ist aus ökonomischer Sicht nicht vernünftig. Sicherlich ist es gut, wenn der Bereich der Staatsverschuldung gewissen Regularien unterworfen ist, aber die Bremse ist ein Extrembeispiel.
Wie könnte eine Reform der Schuldenbremse aussehen?
Es liegen viele Vorschläge auf dem Tisch, ich nenne einmal die beiden wichtigsten: Die eine Option wäre eine investitionsorientierte Schuldenbremse, bei der man bestimmte Arten von Ausgaben generell von der Bremse ausnimmt – beispielsweise für die Verteidigung oder den Klimaschutz. Die andere Option wäre eine Abkehr von der starren Schuldenbegrenzung, hin zu einer Analyse der Schuldentragfähigkeit. Man würde hier nicht mehr auf die Schuldenquote schauen, sondern auf das Verhältnis aus Zinsen und Steuereinnahmen. So lange, wie die Zinsbelastung in den Haushalten nicht in die Nähe eines kritischen Werts kommt, dürften dann weitere Schulden gemacht werden.
Welcher Pfad wäre aus Ihrer Sicht besser?
Aus ökonomischer Sicht wohl der zweite, weil er flexibler und näher an der finanziellen Realität ist. Aber die ganze Debatte um die Staatsverschuldung ist politisch höchst aufgeladen, die Sichtweisen der einzelnen Protagonisten sehr verhärtet. Und da eine Reform der Schuldenbremse im Grundgesetz verankert werden muss, müssen wir am Ende einen Weg finden, bei dem alle Beteiligten mitmachen.
Am Ende ist der Punkt doch dieser: Auch die vielzitierte sparsame schwäbische Hausfrau wird ein kaputtes Dach, durch das es hineinregnet, sofort reparieren lassen - auch wenn sie dafür einen Kredit aufnehmen müsste. Von daher würde ich denken, dass die investitionsorientierte Schuldenbremse politisch realistischer ist als eine vergleichsweise technokratische Schuldentragfähigkeitsanalyse, wo Expertengremien am Ende eine Einschätzung treffen müssen, die letztendlich ja das Königsrecht des Parlaments beträfe: nämlich das Haushaltsrecht.
Wird sich die Ampelkoalition auf eine Reform der Schuldenbremse einigen können?
Die Frage ist nicht, ob eine solche Reform kommt, sondern wann. Die Union hat momentan wohl relativ wenig Lust und Anreiz, der Ampel aus der Patsche zu helfen, obwohl sich in einigen Ländern die Ministerpräsidenten grundsätzlich offen gezeigt haben. Sollte sie nach der nächsten Wahl den Kanzler stellen, wird sie hingegen vermutlich als allererstes an die Schuldenbremse herangehen. Die Frage ist also: Kommt vorher schon mit der Ampel so etwas zustande?
Realistisch sehe ich, dass sie sich nicht zu einer grundlegenden Reform durchringen kann, aber möglich wäre beispielsweise ein „Sondervermögen Transformation“ nach dem Vorbild des Bundeswehr-Sondervermögens. Trotzdem bleibt die Frage: Macht die Union bei so etwas mit oder lässt sie erst mal die Ampel auflaufen? Und was macht dann die FDP, die sich ja als Gralshüterin der Schuldenbremse inszeniert? Wie auch immer: Spätestens mit Beginn der nächsten Legislaturperiode werden wir eine Reform der Schuldenbremse sehen.
Die EU hat im Zuge der Corona-Krise erstmals gemeinschaftliche Schulden aufgenommen, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie aufzufangen. Ist das der richtige Weg, dass nicht mehr nur die EU-Mitgliedstaaten, sondern auch die EU Schulden aufnehmen kann?
Unbedingt. Europa muss sich anders aufstellen im globalen Zusammenhang – sowohl im Bereich der Verteidigung als auch bei der Industriepolitik und der Energiewende. Das sind alles Themen, die auf die europäische Ebene gehören, Stichwort Next Generation EU. Es geht ja am Ende um die Sicherheit und Freiheit von ganz Europa. Aktuell sehen wir riesige Diskrepanzen auf der europäischen Ebene, was das Engagement in diesen drei Kernthemen angeht. Wenn das auf der europäischen Ebene organisiert und finanziert werden würde, könnten wir uns vermutlich viele Debatten innerhalb der einzelnen EU-Länder ersparen.
Ein Blick zurück: 2010 führte die Bankenkrise zu einer Schuldenkrise in vielen EU-Staaten. Sehen Sie die EU und die Mitgliedsländer heute besser gerüstet für eine Finanzkrise, wie wir sie nach der Lehmann-Pleite erleben mussten?
Insgesamt würde ich sagen, dass die Euro-Architektur doch erheblich verbessert worden ist. Wir sind für Krisen besser gerüstet, auch wenn bestimmte Grundprobleme wie die hohe Verschuldung einzelner Euroländer immer noch da sind.
In anderen Ländern werden Erneuerbare als „Hope Energy“ gehandelt, wir diskutieren über Atomkraftwerke. Verpassen wir hier in Deutschland den Anschluss an diesen positiven Trend?
Ja, das ist vermintes Gelände. Wir haben uns aus meiner Sicht viel zu lange mit der Atomdebatte aufgehalten. Natürlich ist es kommunikativ unplausibel, mitten in einer Energiekrise laufende Kraftwerke abzuschalten. Aber die Frage ist ja: Hätte man das realistisch um ein bis zwei Jahre verlängern können – oder hätten wir Brennstäbe nachbestellen müssen und die Atomkraft, salopp gesagt, dann noch weitere zehn Jahre an der Backe gehabt? Wenn ich mir die neueste Strompreisanalyse vom Februar anschaue, dann läuft doch so ziemlich alles in die richtige Richtung: Die Märkte gehen davon aus, dass die Strompreise weiter sinken.
Welche Schulnote würden Sie der Ampelkoalition für ihre Energiepolitik ausstellen?
Es hat im großen Stil Planungsbeschleunigungen für die Energiewende und den Ausbau der Netze gegeben. Da würde ich eine gute Note vergeben, weil da vieles im Argen lag und die Koalition aus meiner Sicht die Weichen in die richtige Richtung gestellt hat. Bei der Kraftwerksstrategie würde ich eher eine “3” als Schulnote vergeben, weil das aus meiner Sicht das Finanzierungsproblem unnötig hoch gehängt wurde. Aber so ist es nun mal: Ein Zeugnis besteht nicht nur aus einer Note, sondern aus mehreren.
Herr Südekum, vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr. Jens Südekum
ist Professor für Internationale Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Südekum ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und im Wissenschaftlichen Beirat der Hans-Böckler-Stiftung.
Pro Schuldenbremse: Lesen Sie hier, warum der Ökonom Nilas Potrafke (Ifo Institut) die Schuldenbremse für eine gute Idee hält.
Mehr Interviews bei Zweitausend50
„Nur der Staat kann in Krisen Sicherheit bieten.“ – der Ökonom und DIW-Präsident Marcel Fratzscher fordert in Krisen staatliches Handeln – und benennt ein Tabu. Zum Interview
„Schon jetzt ein Bröckeln des Generationenvertrags.“ – der Soziologe Stefan Schulz über die Frage, wie der demographische Wandel unsere Zukunft gefährdet. Zum Interview
„Wandel durch Handel – das hat nicht funktioniert.“ – der deutsch-chinesische Journalist und Schriftsteller Felix Lee über chinesische Industriepolitik. Zum Interview
Zurück zur Magazin-Übersicht „Schulden bremsen?“