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Drei Fragen an...

Prof. Dr. Holger Schulze

Die Energieerzeugungslandschaft ändert sich. Das kann man nicht nur sehen, sondern auch hören. Sagt ein Professor für Musikwissenschaft. 

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© Illu: Ralf Hiemisch/BDEW

Herr Schulze, Sie forschen über die Auswirkung von Klängen auf Menschen. Was für ein Geräusch macht die Energiewende?
Das Umsteuern von fossilen Brennstoffen zu nachhaltiger Kreislaufwirtschaft will dem Rohstoffabbau der letzten beiden Jahrhunderte ein Ende setzen. Es ist ein Umsteuern, das nicht nur nationale Wirtschaftskreisläufe umbaut, sondern sich um eine Rettung vor dem Klimakollaps bemüht. Klanglich heißt das: wir bewegen uns von Klängen der Rohstoffgewinnung zu Klängen einer respektvolleren Wirtschaftsform. Denn Klänge entstehen durch konkrete Handlungen. In der Energiewende höre ich vor allem ein langsames Ausklingen des kämpferischen Lärms der Industrialisierung:



Die Feuer sterben ab, die schweren Maschinen werden ausrangiert, Fördertürme in Europa und der Südhalbkugel werden stillgestellt. Die Arbeitsgesellschaft wird umgebaut. Weniger Stahl und Gusseisen schlägt hier aufeinander, wir hören mehr das sanfte Surren der Stromkreise; gelegentlich melodische Signale, die über die gesamte Frequenzbandbreite reichen. Milde Schleifen, vielleicht ein fragiler Obertongesang, der leiser, immer leiser wird. Auch die Städte werden immer leiser, surrender. Dieses Potenzial sollten wir nicht durch vorauseilende Neubeschallung verschenken. Das Abschwellen des Lärms ist auch Ausdruck der geringeren Gewalt und Energie, die im Wirtschaften nötig ist. Wir hören auch den Anstieg des sozialen Fortschritts in der Kreislaufwirtschaft. Mehr Gleichberechtigung, Anerkennung und Respekt.

Was für Auswirkungen hat das auf den Menschen?
Es ist eine Erleichterung, eindeutig. Vielleicht wird das noch nicht von allen so empfunden. Die Rohstoffförderung und Energiegewinnung der letzten Jahrhunderte prägte eine panische Industrialisierung. Ihre endlose Serie mehr oder weniger lebenserleichternder Erfindungen und Konsumprodukte machte die Massengesellschaften Europas erst wohlhabend. Sterblichkeit sank, Lebenserwartung stieg. Lokale Wohlfahrtsgesellschaften wurden denkbar. Wir spüren heute, wie dieser Rausch endet.



Wir können die Augen öffnen für andere Bedürfnisse und Werte des Wirtschaftens. Feueröfen kommen uns zunehmend fremdartig vor. Wir wollen nicht mehr verbrennen, sondern ein Fließgleichgewicht aufrechterhalten. Es ist eine andere Lebensweise. Diese Lebensweise trägt Sorge, dass soziale Schichten bei uns und Kulturen auf anderen Kontinenten nicht Schaden nehmen. Das ist ihre Auswirkung auf den Menschen. Auch in dieser Hinsicht werden wir leiser und behutsamer. Wir erkennen die Nutzen und Schäden der Massenproduktion und bemühen uns um Alternativen. Es ist ein Ringen. Doch wir erkennen den Nutzen für alle. Die Energiewende ist ganz klar auch ein Akt der planetaren Solidarität. Diese wird hörbar in den kleineren, nüchternen Klängen. Deren Sanftheit wird dominant.

Gibt es einen spezifisch europäischen Klang der Energiewende – und wenn ja, welchen?
Die Energiewende ist überlebensnotwendig und kostet zunächst Überwindung und Geld. Sie verlangt radikales Umsteuern - das Polster hierfür haben europäische Gesellschaften sich im Zuge der Industrialisierung erworben; nicht ohne bleibende Schäden, wie wir wissen. Aus dieser Dialektik kommen wir nicht raus: unser Wohlstand ist einzigartig - doch bitter erkauft. Das ist unsere spezifische europäische (Klang-)Geschichte. Gesellschaftlicher Fortschritt ist nicht kostenlos. Der Klang der Energiewende umfasst darum auch einen Klang dieses Fortschritts: einen Klang der Widersprüche, der Geschichtlichkeit, vielleicht sogar der Wiedergutmachung. Gesellschaftliche Gleichheit, die planetar gedacht wird, ist das Ziel. Wie klingt solch dialektischer Fortschritt der Gesellschaft?



Vermutlich klingt er widersprüchlich: nicht allein surrende Schleifen oder milder Obertongesang sind zu hören; sondern auch Klänge gesellschaftlichen Ringens um die neue Kreislaufwirtschaft. Die Ängste und Proteste, die das bekannte Wirtschaften nicht aufgeben und ihre Berufe nicht verlieren wollen; die Proteste und Ängste aufgrund der Zerstörungen, die uns drohen, wenn wir nicht umsteuern. Diese Ambivalenz und Geschichtlichkeit, ihre ausdrückliche Erwähnung - auch an diesem Ort, in diesem Magazin -, das ist für mich das herausragende Erbe einer europäischen Kulturgeschichte in Klang.

Biografie


Holger Schulze ist Professor für Musikwissenschaft an der Universität Kopenhagen und leitet das Sound Studies Lab. Er erforscht mit einem Team aus internationalen Forscherinnen, wie wir auf Sprachassistentinnen hören, wie der Klimawandel sich akustisch abzeichnet oder wie wir Klänge schmecken oder riechen.


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