Wenn wir uns im Internet bei Kartenanbietern ins europäische Festland hineinzoomen, dann orientieren wir uns an Ländergrenzen, Flüssen und Autobahnen – diese "Lebensadern" zeigen uns schnell, auf welches Land oder welche Region wir blicken. Doch es liegt auch noch ein weiteres Netz über – und unter – Europa, das wir normalerweise nicht wahrnehmen: die fein verästelte europäische Gasinfrastruktur.
Das Gasnetz hat mit dem Stromnetz viel gemeinsam. Was beim Stromnetz die Hochspannungsleitungen sind, entspricht beim Gasnetz den großen Pipelines mit einem Durchmesser von bis zu 1,30 Metern. Sie erstrecken sich von den Weiten Russlands bis nach Portugal und von Lappland bis Sizilien: ein Röhrenlabyrinth mit einer Gesamtlänge von mehr als 225.000 Kilometern.
Das Gas bewegt sich in diesen Rohren mit einem Druck von bis zu 200 bar – bis zu 100 mal so hoch wie in einem Autoreifen. Kompressor- und Verdichterstationen im Abstand von 80 – 160 Kilometern halten den Druck aufrecht. Und wie beim Stromnetz auch, wird das Gas über Verteilnetzbetreiber mit geringerem Druck in die noch viel weiter verzweigten lokalen Gasnetze bis zum Endverbraucher weitertransportiert: Alleine das deutsche Gasnetz hat – bei deutlich niedrigeren Leitungsdurchmessern - eine Länge von rund einer halben Million Kilometern, die eingebunden sind in ein System von 47 Gasspeichern. Deutschland ist damit Rekordhalter in Europa: Die mehr als 20 Speicherbetreiber verfügen über das größte Erdgasspeichervolumen in der Europäischen Union, gefolgt von Italien, Frankreich und Österreich.
Fit für die Energiewende
Was beim Bau der Gasnetze vor 50 bis 100 Jahren noch niemand ahnen konnte: Sie werden einen entscheidenden Infrastrukturbaustein der Energiewende darstellen und die Sektorkopplung ebenso vorantreiben wie die Wasserstoffwirtschaft. Denn die Netze gestatten nicht nur den Transport von Gasen, sie können auch als gigantisches und flexibles Speichersystem eingesetzt werden. Alleine das deutsche Gasnetz ist beispielsweise in der Lage, 360 TWh Energie zu speichern – etwa ein Zehntel des jährlichen Primärenergieverbrauchs in Deutschland. Doch die Netze können noch mehr, sagt Hendrik Pollex. Er ist Director Systems Operation beim European Network of Transmission System Operators for Gas (ENTSO-G).
Hier arbeiten 44 europäische Fernleitungsbetreiber aus 26 EU-Staaten gemeinsam an den technischen Standards des Gasnetzes von morgen. Pollex: "Auch, wenn wir uns langfristig von den fossilen Gasen wegbewegen müssen, stellt die existierende Gasinfrastruktur einen unschätzbaren Wert dar: Schon heute können wir dem Erdgas Wasserstoff beimischen und damit die Dekarbonisierung stufenlos hochfahren. Wir können aber auch einen Teil der bestehenden Infrastruktur zu reinen Wasserstoffnetzen umbauen. Die Leitungen liegen, wir müssen vor allem an den Schnittstellen arbeiten. Wenn wir diese Ressourcen nutzen, sparen wir nicht nur Geld, sondern auch viel Zeit."
Damit die Gasnetze ihrer Funktion erfüllen können, müssen sie aber noch "fit for future" werden. Gase müssen – was bisher nicht überall geht und Umbauten bei den Gaspumpen erfordert – in beide Richtungen fließen können. Dieser Umbau ist auch deshalb erforderlich, weil im Netz der Zukunft Gase unterschiedlicher Qualitäten unterwegs sein werden: Methannetze treffen auf reine Wasserstoffnetze - oder auch auf Netze mit gemischten Gasen.
Gas, LNG und Wasserstoff
Desweiteren braucht es neue Zugangspunkte für die Einspeisung von Gas, das aus volatilem erneuerbarem Strom stammt. Und es fehlen Knotenpunkte (im Fachjargon: "Cross-border Points"), die das Gas so bereitstellen, dass es für den jeweiligen Endverbraucher zugeschnitten ist. "Das kann man sich wie ein Umspannwerk vorstellen", sagt Hendrik Pollex, "denn Gas ist nicht gleich Gas. Erdgas hat andere Brennwerte als LNG oder als Wasserstoff. Daher müssen wir die Möglichkeit haben, an bestimmten Knotenpunkten die Beschaffenheit der Gase zu verändern, beispielsweise durch Beimischungen oder Filtereinrichtungen." Parallel zur Struktur der Leitungen, Knotenpunkte und Ein- wie Ausspeiseschnittstellen wird eine zweite, digitale Struktur aufgebaut, die dieses hochkomplexe System in Echtzeit transparent und kontrollierbar macht.
Bildergalerie: Die Nord Stream Pipeline
Dieser Umbau bedeutet nicht nur technische Arbeit, sondern auch politische. Noch gibt es europaweit keine einheitlichen Rahmenbedingungen, denn die Energiewende hat beispielsweise in Deutschland, Norwegen oder Schweden eine andere Agenda als in Polen oder der Tschechischen Republik. Während die einen schon an der zunehmenden Elektrifizierung arbeiten, steht bei anderen noch der Umstieg von Kohle auf Gas auf der Agenda. "Beim Gasnetz der Zukunft müssen alle Länder an einem Strang ziehen", sagt BDEW-Chefin Kerstin Andreae: "Eine gesamteuropäische Lösung kann nur funktionieren, wenn alle mitspielen." Auch hier, so zeigt sich, geht es nicht nur um ein politisches und technologisches Wettrennen, sondern darum, dass alle Teilnehmer im Ziel ankommen.
Mehr zum Gasnetz
Auf einen Blick - das europäische Gasnetz in einer Karte. Zum PDF
Sicher und flexibel - die Roadmap Gas des BDEW. Zum Dokument
Schlüsselelement Wasserstoff - ein Dossier vom BMWI über die Alternative zu fossilen Energieträgern. Zur Seite
Zurück zur Magazin-Übersicht Europa