Ein Dienstagmorgen, kurz vor sechs: Arbeitsbeginn für Senior-Servicetechniker Rainer Lager im Südhafen von Helgoland. Der 46-Jährige ist zuständig für die Wartung der 48 Windturbinen im Offshore-Windpark Nordsee Ost, den RWE vor Helgoland betreibt. Als Lager das Servicegebäude am Kai erreicht, ist es noch dunkel. Früh am Morgen treffen sich Lager und seine Kollegen täglich zum sogenannten „Toolbox-Talk“: Welche Arbeiten müssen durchgeführt werden? Auf welche Besonderheiten müssen die Techniker achten? Wie ist die aktuelle Wetterlage? An diesem Dienstag: gut genug, um in Richtung Windpark aufzubrechen.
Gemeinsam laden sie Werkzeug und Materialien auf das Transportschiff und legen ab. Nach gut eineinhalb Stunden erreichen sie den Windpark. Doch bevor der Kapitän eine der Windkraftanlagen anfahren kann, muss der Leitstand auf Helgoland dafür grünes Licht geben: Mit einem vorn am Bug installierten Fender und reichlich Schub drückt sich das Schiff am Bootsanleger des Fundaments fest. Techniker Lager und seine beiden Begleiter warten auf ein Zeichen des Deck-Operators, dann steigen sie über und klettern 25 Meter zur Plattform hinauf. Nach einer kleinen Verschnaufpause werden mit einem Kran das Werkzeug und Material vom Schiff auf die Plattform gebracht. Von dort aus geht es in den Turm der Windturbine und per Aufzug weiter hinauf ins Maschinenhaus. Und so steht Lager, knapp drei Stunden, nachdem der Wecker geklingelt hat, rund 35 Kilometer von Helgoland entfernt auf einem 85 Meter hohen Turm mitten in der Nordsee und blickt durch ein kleines Fenster auf das offene Meer. Definitiv kein Job für jedermann – seefest und höhentauglich muss man sein. Gearbeitet wird im Zwei-Wochen-Schichtsystem und so gehört es dazu, zweitweise von der Familie getrennt zu sein. Doch Lager ist glücklich mit seinem besonderen Arbeitsplatz: „Die Tätigkeiten sind abwechslungsreich und wir arbeiten als Team an Land und auf hoher See eng zusammen.“
Es sind harte Bedingungen, weit draußen im Meer an den Orten, an denen das "Erdöl von morgen" entstehen soll: grüner Wasserstoff. Bevor es soweit ist, vergehen Jahre. So lange dauert allein der Bau eines Offshore-Windparks. Der größte der Welt entsteht gerade in der Dogger Bank vor Großbritannien. Errichtet werden dort unter anderem 100 Turbinen von Siemens Gamesa Renewable Energy. Die Anlagen leisten jeweils 14 Megawatt, Rotordurchmesser: 222 Meter. "Früher dachte man, bei 30 Metern Wassertiefe sei Schluss, jetzt ist man 50 bis 60", sagt Malte Jansen, Windkraft- und Offshore-Experte am Imperial College London. Er ist Branchenkenner der ersten Stunde: Als Student arbeitete er bei Alpha Ventus am ersten Windpark mit. "Das hohe Windangebot auf See ermöglicht eine viel stetigere Produktion als an Land." Onshore liege der Kapazitätsfaktor bei 20 bis 25 Prozent, das ist die Anzahl der Volllaststunden geteilt durch die Gesamtzahl der Stunden eines Jahres. Dem stünden offshore 50 Prozent oder mehr gegenüber.
Zusätzlich zur größeren Auslastung der Offshore-Windräder stellen aber auch die Bedingungen im Meer höhere Ansprüche an Materialien und Bauteile. Erprobt werden sie von Wissenschaftlern wie Hanno Schnars vom Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung IFAM. Unweit von Rainer Lagers Arbeitsplatz entwickelt das IFAM gerade ein Testzentrum für maritime Technologien. "Nicht nur hohe Windgeschwindigkeiten, auch die salzhaltige Atmosphäre sowie Seegang und Treibgut als mechanische Lasten wirken auf die Anlagen ein", sagt Schnars. Unter der Wasseroberfläche wachsen Seepocken, Algen und Muscheln am Sockel der Plattform an. Weil sich die Auswirkungen dieser unterschiedlichen Einflüsse im Labor nur unzureichend simulieren lassen, betreibt das Fraunhofer-Institut sein Testfeld vor Helgoland unter Realbedingungen.
"Das Herzstück soll eine Gründungsstruktur werden, also die Konstruktion zwischen Turbine und Meeresgrund", sagt Schnars. Zudem könne man das Heranfahren des Schiffs und das Übersteigen bei verschiedenen Wellen- und Strömungsbedingungen trainieren und ebenso Zukunftstechnologien wie die Instandhaltung und Wartung mithilfe autonomer Robotik testen. Erste Industrieprojekte, bei denen in dem Unterwasser-Testfeld autonome Fahrzeuge am Meeresgrund erprobt werden, sind für 2021 in Planung. "Über Wasser sind zusätzlich etwa Inspektionstätigkeiten per Drohne denkbar. Auch diese müssen durch die Piloten geübt werden", sagt Schnars – und auch dafür bietet die Nordsee um Helgoland ein ideales Übungsgelände.
Wasserstofferzeugung offshore: Aber wie?
Neben Deutschland ist vor allem Großbritannien ein Großerzeuger von Offshore-Windenergie: Zehn Gigawatt produziert das Königreich derzeit, bis ins Jahr 2030 sollen es 40 Gigawatt sein. Die Bundesrepublik, die aktuell rund 7,5 Gigawatt Offshore-Windenergie erzeugt, hat diese Zielmarke erst für das Jahr 2040 angepeilt. Im November hat der Bundestag die Novelle des Windenergie-auf-See-Gesetzes beschlossen. Darin geht es auch um zusätzliche Flächen im Meer, auf denen grüner Wasserstoff erzeugt werden kann – und von dort ausgehend in Industrie, Verkehr, Strom und Wärmesektor eingesetzt werden soll. Die Bundesregierung fördert ihn im Rahmen einer Nationalen Wasserstoffstrategie: Im Juni 2020 wurden etwa sieben Milliarden Euro für den Markthochlauf von Wasserstofftechnologien in Deutschland und zwei Milliarden Euro für internationale Partnerschaften bereitgestellt.
Ein Parkhaus im Meer
Doch wie lässt sich der Plan, auf dem Meer Wasserstoff zu erzeugen, praktisch umsetzen? Da wären zuerst die Anlagen. Eine Option ist es, die Windkraft-Elektrolyse auf ausgedienten Öl- oder Gasplattformen durchzuführen. Plattformen dieser Art sind in der Nordsee reichlich vorhanden. Der Wasserstoff ließe sich dann über ausrangierte Erdgaspipelines an Land bringen. Das deutsche Ingenieur-Unternehmen Tractebel hat gemeinsam mit seiner Tochter Overdick einen anderen Weg entwickelt: eine Plattform, etwa so groß wie ein Parkhaus, auf der Elektrolyseeinheiten, Transformatoren und Meerwasserentsalzungsanlagen Platz finden. Mitten im Meer soll sie mit dem Strom aus den umstehenden Windkraftanlagen bis zu 400 Megawatt Leistung produzieren. Noch existiert sie nur auf dem Papier. Doch jüngst hat man sich mit Partnern zusammengetan, um einen Prototypen zu bauen: Die konkret geplante Plattform soll saubere Energie ins Netz einspeisen und via Gasnetz grünen Wasserstoff liefern.
Bildergalerie: Arbeitsplatz Nordsee
Doch "die Umwandlung des Gasnetzes von Methan nach Wasserstoff ist nicht trivial – eine Gefahr ist die sogenannte Wasserstoffversprödung, bei der sich der Stahl verhärtet und durch den Wasserstoff brüchig wird", sagt Windkraft-Experte Malte Jansen vom Londoner Imperial College. Eine Alternative: "Man kann an den Windparks auch Tanker mit Wasserstoff beladen, in Rotterdam anlanden und dort ins Gasnetz einspeisen." Europas größter Seehafen macht sich für die Anlandung, Verarbeitung und Verteilung bereit und hat schon einen Wasserstoff-Masterplan entwickelt, mit dem er zur wichtigsten Importdrehscheibe für Wasserstoff werden soll.
Zudem könne man den Wasserstoff nach Jansens Worten in Salzkavernen oder leeren Öl- und Gasfeldern einlagern. Überschüssige Windenergie müsste damit nicht umgehend zum Verbrauch an Land geleitet werden. Mit einer aktuellen Studie im Fachmagazin "Nature Energy" haben Jansen und seine Kollegen gezeigt, dass der Netzanschluss etwa ein Drittel der Gesamtkosten eines Windparks auf See ausmacht. "Entfällt dieser, weil wir Wasserstoff produzieren, wird die Sache interessant."
Europa: Gemeinsame Anstrengung nötig
Trotz unterschiedlicher Geschwindigkeiten in den einzelnen Ländern, trotz Brexit: "Erfolgreiche Offshore-Windkraft ist und bleibt ein europäisches Projekt – Brexit hin oder her", sagt Jansen. Zum einen sei das in Europa nahezu beispiellose Wissen der Briten entscheidend, das aus der Tradition des Flugzeugbaus sowie der Offshore-Öl- und Gasindustrie herrühre, zum anderen die europäischen Lieferketten: "Die Windkraftbranche arbeitet mit großen Komponenten, die nicht so häufig wie Autoteile über die Grenze gehen – man muss also nicht andauernd Zölle zahlen." Diese Lieferketten habe man in Europa durch gemeinsame politische Anstrengungen geschaffen und sei damit Vorreiter in der Welt geworden. Auch bei der Offshore-Wasserstoffproduktion gilt europäische Zusammenarbeit schon jetzt als Erfolgsfaktor.
Im Juli 2020 hat die EU die European Clean Hydrogen Alliance ins Leben gerufen, der auch der BDEW angehört. "Kein EU-Staat kann die Herausforderungen allein bewältigen, die mit dem Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft verbunden sind", sagt BDEW-Chefin Kerstin Andreae. Ziel des Bündnisses ist es, die Entwicklung einer sauberen und weltweit wettbewerbsfähigen Wasserstoffindustrie in Europa zu unterstützen. Auf dem Weg dahin soll eine Investitionspipeline mit wirtschaftlich tragfähigen, groß angelegten Projekten aufgebaut werden.
Am Windpark Nordsee Ost ist es mittlerweile Nachmittag geworden, in der Dämmerung machen sich die Monteure auf den Rückweg. Auch die Hochsee-Insel Helgoland hat das Top-Thema Wasserstoff erreicht: Die Initiative AquaVentus, an der auch Rainer Lagers Arbeitgeber RWE beteiligt ist, will hier bis zum Jahr 2035 Elektrolyseanlagen mit einem Gesamtvolumen von zehn Gigawatt bauen. Bis zu einer Million Tonnen grüner Wasserstoff soll so erzeugt werden. Von Helgoland als zentralem Knotenpunkt aus soll er über eine zentrale Sammelpipeline an Land transportiert werden. Lager sieht diese Pläne positiv: „Offshore-Wind kann verlässlich und kostengünstig Strom liefern und ist damit der ideale Partner für die Erzeugung von grünem Wasserstoff.“
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