Ganz gleich, ob New York, Rio oder Tokio: Wer heute in einer beliebigen Metropole auf einen Metro-Plan schaut, der blickt auf das Erbe von Harry Beck. Der Brite war in den Dreißigerjahren technischer Zeichner in der Signalabteilung der London Underground. Ihn störte, dass der Netzplan für die U-Bahn-Fahrgäste so unübersichtlich war. Neben farbigen Linien für die einzelnen Strecken der „Tube“ waren auch Straßen und Parks verzeichnet – topografisch korrekt, dafür schwer durchschaubar für alle, die nicht jeden Tag dieselbe Route fuhren. Die Stationen zweier Linien in den Außenbezirken fehlten sogar gänzlich, weil sie nicht auf die Karte passten.
Beck warf kurzerhand das Dogma, dass Netzpläne den tatsächlichen geografischen Gegebenheiten folgen müssen, über den Haufen. Sein Ansatz: Wer in der Metro unterwegs ist, will wissen, wie er schnell von A nach B kommt. Der physisch exakte Verlauf der Linien ist dafür unerheblich. Der technische Zeichner nahm elektrische Schaltpläne zum Vorbild, um das Londoner U-Bahn-Netz schematisch darzustellen. Der Clou: Er zeichnete nur waagerechte, senkrechte und in einem 45-Grad-Winkel ausgerichtete Linien. Die Abstände zwischen den Stationen vereinheitlichte er. So wurde die verdichtete Londoner Innenstadt auf dem Plan entzerrt und Beck konnte auch komplexe Linienverläufe übersichtlich darstellen. Die Londoner Transportgesellschaft war skeptisch und druckte den Plan zunächst nur in einer kleinen Auflage. Die war jedoch so schnell vergriffen, dass sich der nächste Druckauftrag schon auf 750.000 Stück belief.
Neuer Dreh: Runde Karten
Mit einer Gesamtstreckenlänge von 402 Kilometern ist das Londoner U-Bahn-Netz heute das drittlängste der Welt. 270 Stationen umfasst es. Ohne schematische Vereinfachung wäre es im 21. Jahrhundert unmöglich, die komplexen ÖPNV-Infrastrukturen Londons und anderer Metropolen darzustellen. Das heißt nicht, dass sich das gängige Kartierungssystem nicht verbessern ließe. Einer der daran arbeitet, ist Dr. Maxwell Roberts. Der Landsmann von Harry Beck entwirft runde Netzpläne, sogenannte „Curvy Maps“, in denen nur kreisförmige und speichenartige Elemente zum Einsatz kommen. Auch Pläne für Berlin, Köln und München hat er entwickelt.
Roberts, der als kognitiver Psychologe an der University of Essex lehrt, wuchs in der englischen Hauptstadt auf. „Für mich war der Plan der Londoner U-Bahn der Weg, um aus dem Haus zu kommen und meine Welt zu erkunden“, sagte er in einem Interview mit der Welt. Städte seien komplizierte Gebilde und ein gut gemachter Plan ermögliche, Kontrolle darüber zu übernehmen. Harry Beck habe einen wirklich guten Job gemacht, sagte Roberts gegenüber der BBC, aber heute gäbe es etwa 100 Stationen mehr in London als in den Dreißigerjahren und der Tube-Plan komme damit nicht gut zurecht. Alles sei dicht zusammengedrängt. Mit seinem runden Entwurf würden Nutzer bei der Routenplanung bis zu 25 Prozent schneller zu einem Ergebnis kommen als mit dem offiziellen Plan, hätten Versuche mit Probanden gezeigt. Dennoch glaubt Roberts nicht daran, dass sein Plan für London jemals eingesetzt werden wird, weil die Veränderung in den Augen der Entscheider doch zu radikal wäre und die Londoner sehr an ihrer Tube Map hingen.
Braucht es den Netzplan noch?
Die größte Konkurrenz für die gedruckte Karte kommt indes von digitalen Fahrplänen, die die Nutzer mithilfe dynamischer Inhalte durch den Nahverkehr navigieren – Umstiegszeiten, Verspätungshinweise und Baustellenwarnungen inklusive. Dafür müssen die Fahrgäste nicht mal mehr wissen, wo in der Stadt sie sich gerade befinden. Die Ortung übernehmen Suchmaschinen oder die Apps der Verkehrsbetriebe für sie. Die digitalen Stadtkarten zeigen die tatsächliche Topografie: Wer etwa den Routenplaner von Google nutzt, sieht kreuz und quer durch die Stadt verlaufende Bahnlinien und Straßen, Parks und Sehenswürdigkeiten. Im Satellitenmodus lässt sich die Stadt besonders realitätsnah betrachten, Bahnhöfe und Gleise von oben abfahren.
Wird der gute alte Netzplan also bald überflüssig? Einer, der das wissen könnte, ist Prof. Dr. Erik Spiekermann. Der Informationsdesigner leitete kurz nach der Wende das Team, das den Netzplan für die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) entwickelte. „Plötzlich war Wiedervereinigung und keiner kannte sich hier aus“, erinnert sich Spiekermann. Noch immer schauen jeden Tag Tausende Menschen in der Hauptstadt auf die „BVG-Spinne“, die als Faltplan für die Hosentasche oder als Aufkleber über Waggontüren und auf Ticketautomaten den ÖPNV-Alltag prägt.
„Ganz sicher werden wir auch in Zukunft gedruckte Netzpläne brauchen“, ist Spiekermann überzeugt. Etwas in den Händen zu halten, anstatt in eine Lichtquelle zu schauen, hält der Designprofi für nützlicher und nachhaltiger. „Wir verstehen besser, was wir in die Hand nehmen.“ Nach einem Jahrzehnt des Wischens auf Glasflächen gewinne diese Erkenntnis wieder an Bedeutung.
Training fürs Gehirn
Die Neurologie bestätigt diesen Zusammenhang: Wenn wir uns bei der Navigation blind auf Geräte verlassen, die uns genau sagen, wann wir wo umsteigen oder wo wir welche Abzweigung nehmen sollen, verkümmern die Navigationsfähigkeiten in unserem Gehirn. Die entsprechenden Zellen vernetzen sich nicht mehr. Im Geografischen Institut der Universität Zürich arbeitet man deshalb in einem EU-geförderten Forschungsprojekt an einem Navigationssystem, das auf die kognitiven Fähigkeiten seiner Zielgruppen reagieren und ihr räumliches Lernen fördern soll.
Auch wer auf digitale Hilfsmittel verzichtet, sich an der Ausschilderung orientiert und im Zweifel auch mal nach dem Weg fragt, trainiert seinen Orientierungssinn. Erfahrene U-Bahn-Fahrgäste wissen ohnehin: Was helfen die besten Onlinepläne, wenn man sie mangels Netzabdeckung nicht aufrufen kann? Dann ist er plötzlich wieder gefragt, der Netzplan, der über der Waggontür klebt.
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