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Windkraft ohne Grenzen

dank Insel-Lösung

Für das Erreichen der Pariser Klimaziele ist Offshore-Ausbau das Gebot der Stunde. Aber wie? Mit Energie-Inseln in der Nordsee.

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© Merle Schenker / BDEW

 

Ein Herbsttag vor der britischen Ostküste: Der Wetterdienst meldet eine Windfront. Stürmische Böen jagen über die Doggerbank, eine Sandbank in der Nordsee, die sich von hier bis vor die dänische Westküste erstreckt. Bis man die steife Brise aber in Dänemark und in Deutschland spürt, werden noch einige Stunden vergehen, so die meteorologische Vorhersage.

Es ist ein Szenario, wie es Tim Meyerjürgens vorschwebt, wenn er von „Offshore-Hubs“ oder „Windenergie-Verteilkreuzen“ spricht. Als Vorstandsmitglied des Übertragungsnetzbetreibers TenneT treibt ihn die Frage um, wie die Windenergie aus der Nordsee künftig möglichst effizient eingesetzt werden kann. Denn will Europa die Ziele des Pariser Klimaabkommens erreichen, muss es sich auf seine erneuerbaren Quellen Wind und Sonne konzentrieren. Dabei zählt vor allem Offshore: Mit 4.500 Volllaststunden in Deutschland sei Windenergie nur auf See ausreichend konstant verfügbar. Meyerjürgens ist überzeugt: „Die Nordsee wird das Kraftwerk Europas werden.“

Game Changer für die Infrastruktur 

Der Windenergie-Ausbau in Deutschland geht aktuell schleppend voran. Für die neue Legislaturperiode sind Ausbaupfade von 40 Gigawatt bis 2040 vonnöten. Die EU sieht in ihrer Offshore-Erneuerbaren-Strategie bis 2030 eine Verfünffachung der in Europa installierten Offshore-Windkapazität vor: von heute 12 auf 60 Gigawatt. Bis 2050 sollen es wiederum fünfmal so viel Gigawatt sein. Ein ambitioniertes Ziel – doch zugleich ein Game Changer für die Infrastruktur, der nach Antworten verlangt. 

Die Verteilkreuze können beim großangelegten Ausbau helfen. „Als das Pariser Klimaabkommen geschlossen und das Ziel der Klimaneutralität ausgegeben wurde, haben wir uns das Potenzial der südlichen Nordsee angesehen“, sagt Meyerjürgens. Ergebnis: Für einen klimaneutralen Energiesektor müssten hier rund 180 Gigawatt Leistung abgerufen werden. Das Potenzial ist da. Doch mit der bisher angewandten Technologie, der herkömmlichen Punkt-zu-Punkt-Offshore-Netzanbindung, lässt es sich nicht abschöpfen: Heute baut TenneT Verbindungen zwischen einem national betriebenen Windpark und der Küste des Betreiberlandes. Die Verbindung der einzelnen Offshore-Netzanbindungen untereinander, die sogenannte „Vermaschung“, ist noch nicht üblich, weder in Deutschland noch sonst wo auf der Welt. Das will TenneT ändern – und hat sich dazu mit dem dänischen Unternehmen Energinet, dem niederländischen Gasunie und Port of Rotterdam zu einem Konsortium mit dem Namen „North Sea Wind Power Hub (NSWPH)“ zusammengeschlossen. 



Neben dem Anschluss der Offshore-Anlagen arbeitet TenneT außerdem daran, die Stromnetze von Ländern miteinander zu verbinden. Diese Leitungen nennt man Interkonnektoren. Ein Beispiel ist NordLink, ein Kabel, das Wind- und Wasserkraft zwischen Deutschland und Norwegen transportiert. Verbindet man Offshore-Anschlüsse mit Interkonnektoren, entstehen Leitungen, die den Strom vom Meer zu mehreren Anrainern transportieren. Ein regional hohes Windangebot kann so auch an entfernteren Orten genutzt werden. Ein weiterer Vorteil: Die bisher gängigen Offshore-Seekabel werden nur zu etwa der Hälfte der Zeit genutzt – 4.500 Volllaststunden. Bei Flaute können dieselben Leitungen für den Stromhandel zwischen den Ländern genutzt werden. Auf Grundlage bisheriger Studien geht das Konsortium von mindestens 30 Prozent Effizienzgewinn aus. Im Auftrag der EU-Kommission hat die Beratung Roland Berger zudem ermittelt, dass sich mit den Verteilkreuzen in einem Zeitraum von 25 Jahren Kosten in Höhe von 3,6 Milliarden Euro einsparen lassen. 

Aus einer großen Insel werden viele kleine

Die Windenergie-Verteilkreuze sollen als zentrale Infrastruktur-Plattformen dienen, von denen aus sich die Energie transportieren lässt. Das kann auch bedeuten, dass vor Ort die Strom-in-Gas-Umwandlung, insbesondere in Wasserstoff, stattfindet. Entstehen sollte – so die Idee zum Projektbeginn im Jahr 2016 – ein großer Knotenpunkt auf der Doggerbank von bis zu 100 Gigawatt Leistung. Hohe Windangebote, kurze Wege zu allen benachbarten Ländern und flache Wassertiefen von rund 15 bis 20 Meter machten die Sandbank zum idealen Standort. Doch Studien haben gezeigt: „Das technische Optimum sind etwa 12 bis 15 Gigawatt pro Insel. Für mehr Leistung brauche ich Zwischenstationen – damit wird das aufwändig und teuer“, so Meyerjürgens. Heute plant das Konsortium mehrere kleine Verteilkreuze, die auch miteinander vernetzt werden.

Die Vision: Neben vielen Windkraftturbinen wird man in der Nordsee eines Tages künstlich angelegte Sandinseln sehen, aber auch Plattformen mit Pfahlgründung oder Schwerkraftfundament sind im Gespräch, ebenso wie sogenannte Caissons. Das sind große Wannen, die mit Sand befüllt und versenkt werden. Welches Konzept das jeweils beste ist, darüber entscheiden Standortgegebenheiten wie die Wassertiefe. 

Bornholm: Erstes Verteilkreuz in der Ostsee

In der dänischen Ostsee setzt man bei einem ähnlichen Projekt auf eine bereits bestehende natürliche Insel: Mit der „Bornholm Energy Island“ entsteht ein Knotenpunkt, der Deutschland und Dänemark mit Windenergie versorgen soll. Das Projekt haben der Netzbetreiber 50Hertz und Energinet aus Dänemark Anfang diesen Jahres gestartet. Im ersten Schritt werden Deutschland und Dänemark mit einem Interkonnektor verbunden. In diesen Übergabepunkt kann auf der Insel Bornholm Strom aus den umliegenden Offshore-Windparks eingespeist werden: Zunächst 2.000 Megawatt Windkraftleistung werden damit an beide Länder angeschlossen. Neue Windparks sollen dazu errichtet und via Seekabel mit dem Offshore-Hub verbunden werden. Bisher eine bilaterale Kooperation – doch Verbindungen zu weiteren Staaten und Windparks sollen folgen. Thomas Egebo, CEO von Energinet, unterstrich gegenüber dem Wall Street Journal zum Projektstart die europäische Zukunft der Energiewirtschaft: Man müsse „die Gangart wechseln vom nationalen Ausbau mit einzelnen Windparks hin zu Energieinseln, die nur als transnationale Projekte zu realisieren sind“, so Egebo. 

Auch Tim Meyerjürgens beklagt, dass der Regulierungsrahmen und die Marktmodelle für Offshore-Windparks noch national geprägt sind. Auch deshalb ist der North Sea Wind Power Hub noch Zukunftsmusik. „Technisch haben wir alles, was wir brauchen, um solche Verteilkreuze zu bauen.“ Doch immer wieder komme es zu Diskussionen zwischen Nationalstaaten darüber, wer den Infrastrukturausbau bezahle und wer davon profitiere. „Da ist mehr Zusammenarbeit notwendig“, so Meyerjürgens. Zwischen Anrainerstaaten wie Deutschland, Dänemark und den Niederlanden seien bereits Abkommen geschlossen. Das Bundeswirtschaftsministerium etwa hat im Mai 2020 eine Absichtserklärung mit den Niederlanden über weitere Energiezusammenarbeit in den Bereichen Netze und Stromübertragung unterzeichnet. 


Foto: TenneT


Ein erstes Verteilkreuz von 12 Gigawatt ist inzwischen in den Entwurf des Netzentwicklungsplans 2035 und den europäischen TYNDP aufgenommen worden, was Meyerjürgens erfreut: „Dass das Projekt in diese Pläne aufgenommen wurde, ist die Basis, um die Regulatorik weiterentwickeln zu können.“ Heißt, Hindernisse aus dem Weg zu räumen: Zum Beispiel sieht das Europarecht vor, dass die Interkonnektoren ihre Kapazität zu 70 Prozent für den Handel zur Verfügung zu stellen. Doch wird ein Interkonnektor mit einem Offshore-Anschluss verbunden, ist die Hälfte der Zeit vorrangig Windenergie einzuspeisen. „Dann kann ich die 70-Prozent-Regel nicht halten“, sagt Meyerjürgens. „Als sie entstand, hatte die Offshore-Windenergie niemand auf dem Schirm. Im Moment blockiert uns diese Regelung, dabei wäre sie eigentlich einfach zu ändern.“ Weil es aber eine europäische Regelung sei, müsse man viel Aufklärungsarbeit leisten, um alle mitzunehmen. 

Schützenswert: Maritimes Leben 

Nicht nur in Richtung der Gesetzgebung ist Aufklärung ein wichtiger Faktor: Auch in Gesprächen mit NGOs, die sich für den Umweltschutz starkmachen, hat ein Plus an Information geholfen. Als anfangs von einer riesigen Insel auf der Doggerbank die Rede gewesen sei, habe es auch pauschale Ablehnung gegeben. Denn die Doggerbank ist die größte Sandbank der Nordsee und europäisches Naturerbe – ein sogenanntes Natura-2000-Gebiet. Der NABU begrüßt zwar den Ausbau von Erneuerbaren Energien, fordert aber den Ausschluss aller Natura-2000-Gebiete für den Bau der Verteilkreuze. Dass das Konsortium die finalen Standortentscheidungen noch nicht getroffen und im Dezember 2019 sogar in Betracht gezogen hat, die niederländische Seite der Doggerbank als Sperrzone auszuweisen, reicht aus Sicht des Umweltverbandes nicht aus. Er befürchtet „erhebliche Auswirkungen“ – unter anderem auf geschützte Meeressäuger. 

Eine davon ist der Schweinswal, der einzige heimische Wal in der deutschen Ost- und Nordsee. Lärmende Bauarbeiten an Offshore-Windparks haben Auswirkungen auf die Tiere, die durch Klick- und Pfeiftöne kommunizieren. Bei der Jagd setzen sie Ultraschall zur Echoortung ein – ihr Gehör ist damit ein Überlebensfaktor. Früh haben der deutsche Umweltschutz und das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) daran gearbeitet, Industrie und Naturschutz zusammenzubringen. In deutschen Gewässern gilt seitdem eine Lärmobergrenze. Außerdem müssen die Arbeiten in für den Schweinswal kritischen Jahreszeiten in vielen Gebieten ruhen. Über die Jahre wurden aufwändige Schutzmaßnahmen eingeführt, Beispiel: „Man legt heute mehrfache Blasenschleier um Baustellen, auf denen die Rammarbeiten stattfinden. Dazu verlegt man Rohre auf dem Meeresboden und bläst Luft hinein. So entsteht ein Luftblasen-Vorhang, der den Schall bricht“, erklärt Meyerjürgens. Der WWF lobte 2016 den Beitrag der Industrie und kam zu dem Schluss, dass Offshore-Windenergie und Umweltschutz keine Gegensätze sein müssen. Zwei Studien belegten, dass die Lärmschutzmaßnahmen positive Auswirkungen auf die Population haben. 



Außerdem tritt der NABU ein für die „Lebensräume am Meeresboden, die sich aktuell in einem ökologisch bedenklichen Zustand befinden“. Das Sandbank-Habitat zieht bestimmte Arten an. Die Fundamente der Windkraftanlagen indes sind Hartsubstrate, die aus der Sandbank eine Art künstlich angelegte Riffe machen würden. Der ursprüngliche Lebensraum wird also verändert. „Natürlich gehen Umwelt- und Klimaschutz nur Hand in Hand“, sagt Meyerjürgens, der sich seit Jahren auch mit den Umweltauswirkungen befasst. „Doch das große Ziel unserer Planung ist, den Klimaschutz zu gewährleisten. Dabei erhalten wir viel Unterstützung.“

Neuer Ansatz ist alternativlos

Werden die Verteilkreuze in der Nordsee tatsächlich gebaut? Und ist der Planungshorizont –Bau um 2035 – realistisch? „Vor fünf Jahren war das kaum vorstellbar“, so erinnert sich Tim Meyerjürgens an den Projektstart. Als „Never-Never-Islands“ sei die Idee oft belächelt worden. Und tatsächlich ist die Realisierung der Verteilkreuze auch heute noch einen regulatorischen Hürdenlauf weit entfernt, der gerade in vollem Gange ist. Trotzdem: „Inzwischen sehen immer mehr Beteiligte die Notwendigkeit“, sagt der TenneT-COO. „Wenn wir tatsächlich die Klimaziele erreichen wollen, geht das nur mit Offshore-Windenergie in einer Größenordnung, für die der bisherige Ansatz nicht ausreicht. Daran führt kein Weg vorbei.“ 

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