In den USA, insbesondere an der Westküste, arbeiten zahlreiche Tech-Unternehmen an Innovationen im Bereich der Hardware, Software, aber auch an Querschnittsthemen und -technologien wie der Mobilität. Hier herrscht seit Jahrzehnten eine Kultur des Experimentierens, Unternehmen haben reichlich Freiheiten, Innovationen – im Wortsinne – auf die Straße zu bringen. Der kanadische Publizist Paris Marx beleuchtet hier im Zweitausend50-Gastbeitrag seine Position zur Frage, inwieweit Tech-Giganten die Mobilitätswende vorantreiben können – und wo die Grenzen der privatwirtschaftlichen Freiheit liegen.
In den vergangenen 15 Jahren zündete die Tech-Branche immer wieder diverse Strohfeuer in Form vermeintlicher Mobilitätsrevolutionen: Menschen sollten aus dem Fahrersitz verbannt und durch Computer ersetzt werden, Autos sollten sich in die Lüfte erheben und Hyperloops in Vakuumröhren sollten schneller (und billiger) als jede Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Städten verkehren.
Doch trotz zahlreicher großer Versprechungen haben die Technologieunternehmen bisher nicht viel Handfestes abgeliefert.
Wenn die Deutschen vergleichen, wie sie sich heute im Vergleich zum Jahr 2013 fortbewegen, werden sie wohl keine substanziellen Veränderungen feststellen – einmal abgesehen davon, dass man sich jetzt ein Taxi per App rufen kann und dass jetzt manche Autos von Elektro- statt von Verbrennungsmotoren angetrieben werden. Das war’s dann auch schon; die versprochene Revolution ist ausgeblieben. Was aber sicherlich nicht heißt, dass das Verkehrssystem so bleiben kann, wie ist es ist!
Im Jahr 2022 verloren 2.788 Menschen auf deutschen Straßen ihr Leben, und weitere 361.134 Menschen wurden bei Verkehrsunfällen verletzt. Die deutschen Autofahrer stehen im Jahresdurchschnitt 40 Stunden ihres Lebens im Stau, und das Beratungsunternehmen INRIX schätzt, dass diese Staus in den nächsten zehn Jahren einen volkswirtschaftlichen Schaden von 47,6 Milliarden Euro verursachen werden – allein in Deutschland, versteht sicht. Und dann noch die Umwelt: Auf den Verkehr entfallen 20 Prozent der nationalen Emissionen im Jahr 2022, trotz zunehmender Elektromobilität ein leichter Anstieg gegenüber dem Vorjahr.
Subventionen gern, Regulierung lieber nicht
Die große Frage ist also, wie diese Herausforderungen bewältigt werden können. Wenn man der Technologiebranche Glauben schenkt, wird sie es schon richten. Wir sollen darauf vertrauen, dass die Tech-Mogule neue Technologien entwickeln, die von Umwelt- bis hin zu Sicherheitsfragen alle Probleme lösen. Die Politik darf gern ihren Teil dazu beitragen, indem sie Forschungs- und Entwicklungskosten subventioniert oder die Verbraucher dazu bringt, ihre neuesten Produkte anzunehmen, aber ansonsten mögen sich die Politiker bitte mit regulatorischen Eingriffen zurückhalten.
Bisher hat das, wie die oben zitierten Statistiken zeigen, nicht besonders gut funktionert. Der Hype, den die Technologiebranche mit ihrem „Big Picture“ für die Zukunft des Verkehrswesens ausgelöst hat, hat weder die Art und Weise verändert, wie wir uns fortbewegen, noch die tieferliegenden Probleme unseres Mobilitätssystems gelöst. Bislang hat auch noch niemand die Führungskräfte der Tech-Branche angemahnt, doch einmal ihre Versprechen einzuhalten oder wenigstens Zeithorizonte für eine Umsetzung aufzuzeigen.
Zukunftstechnologien als Opium fürs Volk
Mitte der 2010-er Jahre hat die Industrie getönt, dass wir in naher Zukunft selbstfahrende Autos haben. Das ist bis heute nicht der Fall. Im Jahr 2018 berichtete die New York Times darüber, wie die libertären und klimawandelskeptischen Milliardäre und Gründer der Koch-Industries, die ihr Vermögen in der Öl- und Automobilindustrie gemacht haben, Dutzende Kampagnen in den USA finanzieren, um öffentliche Verkehrsprojekte zu verhindern. Americans for Prosperity, ihr wichtigster politischer Lobbyistenverband, schickte Drückerkolonnen los, die mit Haustürwerbung, Telefonaktionen und Kundgebungen versuchten, Projekte wie die Verbesserung des Busverkehrs oder den Bau neuer Stadtbahnlinien zu verhindern.
Eines der Hauptargumente war und ist: „Der klassische ÖPNV wird in einigen Jahren eh überflüssig sein und durch fahrerlose Autos ersetzt“. Wann immer rechtskonservative Kräfte erkennen, wie sie – von der Realisierung weit entfernte - Technologien für politischen Aktivismus missbrauchen können, verbreiten sich diese Narrative weit und breit. Doch es sind nicht nur rechte politische Kräfte, die eine umfassende Mobilitätswende torpedieren. Auch Plattformunternehmen und Dienstleister lancieren große Marketing-Etats, um Fahrgäste von Bus oder U-Bahn „abzuwerben“ und sie für eine Autofahrt zu gewinnen.
Politik mit Weitsicht ist gefragt
Ich bin der Überzeugung, dass weder Technologieunternehmen noch die Autoindustrie allein uns vor den immensen Herausforderungen bewahren werden, denen sich unsere Verkehrssysteme stellen müssen. Denn unsere Städte werden weiter wachsen und die Auswirkungen des Klimawandels werden sich verschärfen. Tatsache ist, dass das Verkehrssystem in hohem Maße von der öffentlichen Politik und den Entscheidungen der von uns gewählten Regierungen geprägt ist. Die Probleme, mit denen wir aktuell zu kämpfen haben, sind nicht einfach auf den Einsatz der falschen Technologie zurückzuführen, sondern auf politische Entscheidungen, die über viele Jahrzehnte hinweg getroffen wurden und die wir nun zügig angehen müssen, wenn wir greifbare Ergebnisse sehen wollen.
Sicherlich werden neue Technologien im Verkehrssystem der Zukunft eine Rolle spielen. Aber wenn wir die Zahl der Toten und Verletzten auf unseren Straßen, die verkehrsbedingten Emissionen und die Lebenszeit, die die Menschen im Verkehr verlieren, wirklich reduzieren wollen, muss die Regierung handeln. Sie muss unsere Verkehrswege umgestalten und Investitionen tätigen. Sie muss den Menschen mehr Anreize bieten, den Nahverkehr oder das Fahrrad zu benutzen. Die Probleme in unserem Verkehrssystem sind nicht unvermeidlich; sie können angegangen werden, aber das wird nicht geschehen, wenn wir einfach weiter darauf hoffen, dass Tech-Unternehmen irgendwann die ultimative Lösung aus dem Hut zaubern. Denn das wird nicht geschehen.
Paris Marx
ist ein kanadischer Tech-Journalist und Verfasser des Buches "Road to Nowhere: What Silicon Valley Gets Wrong about the Future of Transportation". Auf der re:publica 2023 hielt Marx eine Keynote zum Thema Technologie und Mobilität. Der Master-Absolvent (Stadtgeografie) der McGill-University betreibt den preisgekrönten kritischen Tech-Podcast "Tech Won't Save Us" und schreibt regelmäßig für Tageszeitungen und Magazine wie Time, Wired, Insider, NBC News, CBC News und andere.
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