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Redispatch: Erneuerbare integrieren -

Komplexitäten managen

Die Energiebranche rückt zusammen, denn sie hat ein gemeinsames Ziel: so viel grüner Strom wie möglich bei maximaler Versorgungssicherheit.

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© Robert Albrecht/BDEW

 

Heiß oder kalt? Vor 20 Jahren brauchte die Energiebranche Wetterprognosen in erster Linie, um einschätzen zu können, ob und in welchem Umfang die Energieabnehmer zu heizen gedenken. Das ist heute im kleinteiligen und volatilen Netz aus erneuerbaren Energien grundlegend anders. Gerade die Übertragungsnetzbetreiber haben das Wetter permanent und umfassend im Blick: Wenn sich von der Nordsee aus eine Regen- und Sturmfront aufs deutsche Festland zubewegt, geben Windparks hohe Leistungen ab, während die Erträge aus Photovoltaik bescheiden sind. In der vielzitierten Dunkelflaute gehen die von Sonne und Wind eingespeisten Leistungen massiv zurück, während sie bei gleichzeitigem Wind und Sonnenschein erheblich ansteigen.

Hinzu kommt, dass es in der Energieerzeugungslandschaft regionale Unterschiede gibt: In Norddeutschland wird, man denke an die Offshore-Windparks, überdurchschnittlich viel Windenergie erzeugt, während zahlreiche dicht besiedelte und verbrauchsintensive Industrieregionen in Süd- und Westdeutschland liegen. Noch ist der Netzausbau nicht so weit vorangeschritten, dass Strom aus Erneuerbaren jederzeit voll abgenommen und zum Endverbraucher transportiert werden kann – und trotzdem gelingt es der Energiebranche, den Verbrauchern stets genügend Energie bereitzustellen. Redispatch macht diese Versorgungssicherheit möglich. 



Unter Redispatch versteht man eine vorausschauende Änderung des vorgesehenen Kraftwerkseinsatzes zur Vermeidung von prognostizierten Netzengpässen. Bisher sitzen dafür hauptsächlich die Übertragungsnetzbetreiber am Ruder: Sie erstellen täglich für den Folgetag Prognosen über die voraussichtlichen Ein- und Ausspeisungen auf den verschiedenen Netzebenen. Sollten sich dabei mögliche Netzengpässe im Transportnetz abzeichnen, kommt Redispatch ins Spiel: So können beispielsweise in verbrauchsstarken Regionen zusätzliche Kraftwerke aktiviert oder weiter hochgefahren werden, während anderenorts die Leistung gedrosselt wird.

Redispatch ist als stabilisierendes Instrument inzwischen von der Ausnahme zur Regel geworden, wie Werner Götz, CEO des Übertragungsnetzbetreibers TransnetBW, feststellt: „Mussten wir vor einigen Jahren nur sporadisch eingreifen, vergeht inzwischen kaum ein Tag, an dem wir nicht mithilfe von Redispatch Netzengpässe beseitigen.“ Die Internetplattform Netztransparenz listet tagesaktuell sämtliche Redispatch-Maßnahmen Deutschlands auf. Allein im Februar 2021 veranlassten die Akteure bundesweit 500 solcher Einzelmaßnahmen. Hinzu kommt das sogenannte Einspeisemanagement. Darunter versteht man die – oft spontan durchgeführte - Abregelung der Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien (EE) und Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) wegen Netzengpässen.

Ekkehard Hollmann ist Referent bei der Bundesnetzagentur und befasst sich mit der Regulierung der Versorgungsnetze. Er sagt: „Im bisherigen Redispatch-System war das Einspeisemanagement als Notfallmaßnahme vorgesehen. Das war zweckmäßig in einer Zeit, in der konventionelle Großkraftwerke gewissermaßen das Rückgrat der Netze bildeten. Diese Zeiten neigen sich aber durch den Atom- und Kohleausstieg dem Ende zu, die Erneuerbaren spielen heute eine ganz andere Rolle als vor zehn Jahren. Einspeisemanagement ist mittlerweile regelmäßig erforderlich. Daran muss sich das System anpassen.“ Der Gesetzgeber hat als Konsequenz für die Zeit ab dem 1. Oktober 2021 neue Spielregeln für Redispatch definiert – dabei handelt es sich aber nicht um eine Nachbesserung, sondern eine vollständig neue Rollenverteilung.


Redispatch 2.0 – alle sitzen in einem Boot

Zwei wichtige Neuerungen bringt Redispatch 2.0 mit sich. Zum einen waren bisher vor allem die Übertragungsnetzbetreiber für die Planung der Redispatchmaßnahmen verantwortlich, während ab 1. Oktober 2021 die Verteilnetzbetreiber und Anlagenbetreiber mit im Boot sitzen. Zum anderen werden nicht mehr nur die Großkraftwerke ab 10 Megawatt Leistung, sondern alle Erneuerbare-Energien- und KWK-Anlagen ab einer Leistung von 100 Kilowatt sowie fernsteuerbare Erzeugungsanlagen von vornherein in die Planung integriert. Ziel ist es, für jede Netzsituation die optimale Lösung zu finden. Es erfordert nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, dass die Komplexität dadurch massiv ansteigt. 

Katherina Reiche, Vorstandsvorsitzende der Westenergie AG: „Redispatch 2.0 ist eine gewaltige Aufgabe für die Branche. Doch diese Weiterentwicklung ist sinnvoll, da mehr als 90 Prozent aller EE-Anlagen dezentral an das Verteilnetz angeschlossen sind. Auf diese müssen wir für ein effizientes Netzengpassmanagement auch auf Verteilnetzebene zugreifen können. Durch das neue System kann zudem sichergestellt werden, dass es keine gegenläufigen Handlungen von Übertragungs- und Verteilnetzbetreibern gibt.“

Was das in Zahlen bedeutet, erklärt Werner Götz von TransnetBW: „Früher wurde Deutschland mit ein paar Hundert Großkraftwerken versorgt. Inzwischen rechnen wir mit mehr als drei Millionen dezentraler Erzeugungsanlagen – das ist eine riesige Flotte, die Verteilnetzbetreiber und Übertragungsnetzbetreiber ab Oktober gemeinsam koordinieren müssen.“ Das neue Redispatch-Regime – oft Redispatch 2.0 genannt – wird unter Federführung des BDEW entwickelt, wobei die Pflichten der einzelnen Akteure durch die Bundesnetzagentur rechtsverbindlich festgelegt werden.
 

Stetiger Datenfluss, eng getaktet

Redispatch 2.0 kann in der Praxis nur funktionieren, wenn ein enger Echtzeitdatenaustausch zwischen Netz- und Anlagenbetreibern und über die verschiedenen Spannungsebenen hinweg gewährleistet ist. Das führt zu intensivierten Beziehungen zwischen allen Akteuren – und zu neuen regionalen wie überregionalen Kooperationen: Im Netzbetreiberprojekt Connect+ arbeiten die vier Übertragungs- und 17 Verteilnetzbetreiber an einer gemeinsamen Umsetzung des Datenaustausches und des Routings von Daten. Ziel ist es, alle relevanten Daten im Viertelstundenrhythmus auszutauschen, um Redispatch-Maßnahmen konzertiert abstimmen zu können.

Die gemeinsame digitale Plattform DA/RE von den baden-württembergischen Netzbetreibern TransnetBW und NetzeBW koordiniert Maßnahmen zur Netzstabilisierung und Engpassbeseitigung durch dezentrale Flexibilitäten über alle Netzebenen hinweg. Nicht zuletzt führt die neue, enge Verzahnung zwischen allen Akteuren (über das Thema Redispatch hinaus) auch zu ganz neuen Möglichkeiten: So werden laut einer Analyse des Verbundprojekts Norddeutsche Energiewende künftig nicht nur Erzeuger, sondern auch Verbraucher beim Redispatch mithelfen: Stahlwerke und Kupferhersteller können ihre Elektroöfen oder Elektrolyseure flexibilisieren und Regelenergie beisteuern.

Das Projekt hat gezeigt, das schon ein einzelnes Industrieunternehmen in der Praxis Leistungen im zweistelligen Megawattbereich zuführen oder abregeln kann. 

Netzausbau kann Kosten senken

Redispatch 2.0 ist jedoch kein Allheilmittel, um die Erneuerbaren bestmöglich ins Energienetz zu bringen – und es kostet viel Geld: seit 2017 bundesweit konstant mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr, 2019 lagen die Kosten bei rund 1,2 Mrd. Euro. Auch wenn die Kosten durch Redispatch 2.0 insgesamt auf mehr Akteure umgelegt werden und Effizienzsteigerungen die Kosten weiter senken werden, sind Verteil- und Übertragungsnetzbetreiber sich darüber einig, dass ein Netzausbau in der Höchstspannungsebene, insbesondere auf der Nord-Süd-Achse, unerlässlich ist.

Hier besteht auch ein planerisches Ungleichgewicht, wie Katherina Reiche feststellt: „Genehmigung und Bau großer PV-Parks erfolgen oftmals innerhalb eines Jahres. Für neue Hochspannungsleitungen, die den Strom von großen Wind- und Photovoltaikparks in die Lastzentren bringen sollen, gilt hingegen ein Genehmigungszeitraum von bis zu zehn Jahren.“

Blick in die Zukunft

Wird es in einer fernen Zukunft ganz ohne konventionelle Kraftwerke zur Vermeidung von Engpässen gehen? Immerhin können durch diese vergleichsweise einfach und verlässlich Kapazitäten abgerufen oder gedrosselt werden. Werner Götz von Transnet BW: „Wir sind optimistisch, dass wir trotz der neuen Kleinteiligkeit des Systems genügend Flexibilitäten und ein engpassfreies Netz haben werden. Das Vorhalten von konventionellen Reservekapazitäten ergibt trotzdem Sinn. Wir werden gemeinsam sehen müssen, wie sich die Erzeugungslandschaft in den nächsten 20 Jahren entwickelt.“ Versorgungssicherheit, so viel steht fest, hat in der Energiebranche höchste Priorität. Auch wenn das bedeutet, permanent Komplexitäten zu managen. 

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