Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat das europäische Stromnetz am 8. Januar 2021 eine harte Bewährungsprobe erfolgreich bestanden. Im Zentrum des Geschehens: Der Übertragungsnetzbetreiber Amprion. Die Geschichte einer guten Stunde.
Dass sie es an diesem Tag mit der größten Störung im europäischen Stromnetz seit anderthalb Jahrzehnten zu tun bekommen werden, ahnen David Hilbert und Felix Klein noch nicht. Um 13 Uhr hat ihre Schicht begonnen. Die beiden Männer heißen in Wirklichkeit anders. Aber ihr Aufgabengebiet ist so systemrelevant und sensibel, dass ihre Identitäten geheim bleiben müssen. Sie arbeiten im Herz des Übertragungsnetzbetreibers Amprion. Von der Hauptschaltleitung in Brauweiler bei Köln aus überwachen und führen die beiden Ingenieure und ihre Kollegen das etwa 11.000 Leitungskilometer und etliche technische Anlagen umfassende Höchstspannungsnetz ihres Arbeitgebers. Ihre Aufgabe: Dafür zu sorgen, dass der elektrische Strom fließt und überall zur Verfügung steht, wo er benötigt wird – rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr.
Herzstück der Hauptschaltleitung ist ein großer Saal mit einer mehr als 100 Quadratmeter großen Videoschauwand und etlichen Monitoren. Auf ihnen beobachten die Experten auch an diesem Tag die Stromnetze Deutschlands und Europas mit allen technischen Anlagen. Sie haben in Echtzeit Zugriff auf etliche Messwerte und Zustandsindikatoren, über Bedienfelder mit hunderten Tasten können sie, wenn nötig, regelnd eingreifen. Mit Argusaugen schauen sie vor allem auf einen wichtigen Messwert: die Netzfrequenz. Zu jedem Zeitpunkt sollen Stromerzeugung und Verbrauch einander die Waage halten. Wenn dies der Fall ist, dann schwingt das Europäische Verbundnetz, das von Dänemark bis Nordafrika reicht, mit 50 Hertz, also 50 Schwingungen in der Sekunde. Wird mehr Strom verbraucht als eingespeist, dann sinkt die Frequenz. Ist das Angebot größer als die Nachfrage, dann steigt sie. Für die Balance zu sorgen, ist die Aufgabe der Übertragungsnetzbetreiber.
Die kritische Stunde beginnt
Es ist 14 Uhr. Zur vollen Stunde, dem so genannten „Stundenwechsel“, schaut das Team der Hauptschaltleitung immer noch ein kleines bisschen aufmerksamer als sonst hin. Der Grund: Zur vollen Stunde verändern aufgrund von Markt-bedingten Fahrplänen oftmals Kraftwerke ihre aktuelle Stromerzeugung; sie werden angefahren oder vom Netz genommen. Das geschieht nicht immer gleich schnell, es kommt mitunter zu kurzzeitigen Ungleichgewichten und somit zu kurzen Frequenzschwankungen. Das ist in der Regel nicht dramatisch. Und so ist es auch an diesem Tag.
Doch kurz bevor die Fünf-Minuten- Grenze erreicht ist, bis zu der es noch möglich ist, für die nächste viertel Stunde manuelle Leistung zu aktivieren um die Balance wiederherzustellen, ertönt ein Gong. Das ist nicht ungewöhnlich: Mit dem akustischen Signal wird das Team darauf hingewiesen, dass etwas Relevantes im Stromnetz passiert ist. Meistens sind dies kurzzeitige Ereignisse oder kleinere Störungen, die sich teilweise automatisch regeln oder ohne großen Aufwand mit einigen Maßnahmen wie etwa Schaltvorgängen wieder in den Griff zu bekommen sind. Doch schon ein einziger Blick auf die Monitorwand zeigt, dass hier keine Bagatelle vorliegt: Die Netzfrequenz ist schlagartig um 0,25 Hertz abgesunken und hat sich nach wenigen Sekunden bei etwa 49,85 Hertz stabilisiert.
Immer im Korridor bleiben
0,2 Hertz – das klingt erst einmal nach relativ wenig. Ernsthafter hört es sich schon in der Maßeinheit der Fachleute an. Hilbert, Klein und ihre Kollegen in der Hauptschaltleitung sprechen über Millihertz. Und 200 Millihertz sind für sie eine extrem große Abweichung von der Sollfrequenz und gewissermaßen eine Leitplanke für den Netzbetrieb. Das Verlassen des Frequenzkorridors von 49,8 bis 50,20 Hertz gilt im kontinentaleuropäischen Verbund als schwerwiegende Störung, ab diesen Grenzwerten werden automatische Schutzmaßnahmen im europäischen Stromnetz ausgelöst. Der erfahrene Ingenieur Hilbert erklärt es dem Laien verständlich: „Ab 100 Millihertz steigt der Puls langsam an“.
Doch die Technik setzt bereits deutlich früher ein: Schon bei einer Abweichung von 0,01 Hertz werden automatisch Maßnahmen zur Frequenzregulierung ausgelöst. Hinter dem Fachausdruck der „Regelreserve“, mit deren Hilfe sich die Netzfrequenz schnell und gezielt regeln lässt, stecken Kraftwerke, die wahlweise binnen 30 Sekunden, fünf oder 15 Minuten ihre Einspeisung erhöhen oder senken können und die Regelleistung erbringen. Wenn das nicht ausreicht, können die Netzbetreiber große Stromverbraucher kurzfristig vom Netz nehmen – Fachleute sprechen vom „gezielten Abwerfen von Lasten“. Dies sind Industriebetriebe mit einem sehr hohen Stromverbrauch, die sich vertraglich dazu bereiterklärt haben. Im Gegenzug bekommen sie eine finanzielle Entschädigung dafür, dass sie zur Stabilisierung des Netzes abgeschaltet werden können.
Das Netz trennt sich auf
Zurück in Brauweiler. Die Männer in der Hauptschaltleitung bewahren einen kühlen Kopf. Das ist ihr Job, dafür sind ausgebildet und trainiert. Ihre erste Handlungsroutine: Sie machen sich ein Bild der Situation: „Die erste Frage ist in so einem Fall immer: „Stimmen unsere Werte überhaupt?‘“, erklärt David Hilbert. Felix Klein ergänzt: „Das war allerdings nach wenigen Blicken auf die alle vorhandenen Daten ziemlich klar.“
Aber was war vorgefallen? Warum war auf einmal im Netz von Amprion viel zu wenig Strom verfügbar? Der Leiter der Netzführung und Systemsteuerung bei Amprion: Dr. Frank Reyer, erklärt die Situation: „An jenem Tag war es in Westeuropa relativ kalt. Zugleich feierten orthodoxe Christen ihr Weihnachtsfest. Es wurde also im Nordwesten sehr viel, im Südosten hingegen relativ wenig Strom verbraucht. Infolgedessen floss recht viel Strom vom Balkan in Richtung Zentraleuropa. Zu viel für die Infrastruktur: In einem Umspannwerk nahe der Ortschaft Ernestinovo in Kroatien kam es zu einer Überlastung und Abschaltung der Verbindung.
Dies setzte einen „Dominoeffekt“ in Gang: Binnen kürzester Zeit wurden benachbarte Leitungen wegen zu hoher Last ausgelöst – es kam zu einer vollständigen Trennung des Verbundnetzes. Dem in Brauweiler beobachteten Abfall der Netzfrequenz im nordwestlichen Teilnetz stand ein ähnlich rapider Frequenzanstieg in Südosteuropa gegenüber. Hier waren rund 5.800 Megawatt Kraftwerksleistung zu viel am Netz, die auf der anderen Seite fehlten.“
Lektionen gelernt
Solche Netzauftrennungen sind sehr selten. Das letzte große Ereignis dieser Art hat sich 2006 zugetragen. Auslöser damals: ein Kreuzfahrtschiff. Für die Überführung eines neu gebauten Ozeanriesens von der Meyer-Werft im niedersächsischen Papenburg zur Nordsee musste eine Höchstspannungsleitung über die Ems abgeschaltet und abgehängt werden. An jenem Tag, dem 4. November, geschah dies etwas früher als ursprünglich geplant. Auch damals kam es zu einem „Dominoeffekt“, das Europäische Stromnetz zerfiel gar in drei Teile. Die Folgen waren gravierend: Aufgrund der massiven Frequenzabweichung kam es zu automatischen Lastabschaltungen und so zu umfangreichen Stromausfällen in ganz Europa. Betroffen waren Millionen von Haushalten, und auch der Bahnverkehr wurde erheblich beeinträchtigt.
Aus diesem Ereignis wurden Konsequenzen gezogen: Als zentrale Plattform für den gebündelten Datenaustausch in Echtzeit wurde das „ENTSO-E Awareness System“ (EAS) eingeführt. Über das EAS können alle kontinentaleuropäischen Übertragungsnetzbetreiber in Echtzeit relevante Daten teilen und nutzen. Diese Plattform hatte am 8. Januar entscheidenden Anteil an der Lösung des Problems. Dank des EAS hatten David Hilbert und Felix Klein wie auch ihre Kollegen in den Schaltzentralen im In- und Ausland schnell ein umfassendes und detailliertes Bild der Lage.
Und dieses Bild zeigte, dass die nach 2006 noch einmal deutlich verbesserten automatischen Abläufe zur Netzstabilisierung an diesem Januartag gut funktionierten: Selbsttätig wurden Kraftwerke hochgefahren, Industriekunden in Frankreich und Italien vom Netz genommen und zusätzliche Regelenergie aus den nicht zum Europäischen Verbund gehörenden benachbarten Netzen in Großbritannien und Skandinavien eingespeist. So war die Netzfrequenz schon nach wenigen Minuten stabil innerhalb des Frequenzkorridors. Außer bei den vertragsgemäß abgeworfenen Industriebetrieben und den Netzbetreibern hat niemand etwas von der Störung mitbekommen. Die Stromversorgung war zu jeder Zeit gewährleistet. Als Lehre aus den Ereignissen des November 2006 wurden auch Verantwortlichkeiten und Kommunikation definiert und standardisiert.
Federführend für die Kommunikation und Koordination von gemeinsamen Maßnahmensind abwechselnd Amprion und der Schweizer ÜNB Swissgrid, an diesem Tage liefen die Fäden in Deutschland zusammen. Aufgrund der Schwere des Vorfalls beruft David Hilbert eine Telefonkonferenz mit den Verantwortlichen der neben Deutschland größten Übertragungsnetze ein: neben Amprion und Swissgrid als Coordination Centre Nord und Süd sind dies RTE (Frankreich), REE (Spanien) und Terna (Italien).
Das erste Gespräch ist nur kurz, man tauscht Informationen aus und stellt gemeinsam fest, dass die bereits automatisch aktivierten Maßnahmen ausreichen, sich die Frequenz erholt und genug Regelenergie verfügbar ist, um die Balance im Netz wiederherzustellen. Doch es folgen noch eine ganze Reihe von Telefonaten und Besprechungen: Zunächst gilt es, die durch die Trennung entstandene Nordwest- und Südost-Teilnetze zu stabilisieren, danach machen sich die Übertreibungsnetzbetreiber daran, die in der akuten Störungssituation abgeschalteten Verbraucher wieder mit Strom zu versorgen. All dies erfordert einen permanenten Austausch und die gemeinsame Bewertung von Informationen und die Koordinierung der Maßnahmen in den Netzen.
Anschließend nimmt das Team in Brauweiler mit den TSO in der Süd-Ost-Insel Kontakt auf, um die Lage dort zu analysieren und die Wiederherstellung der gekappten Verbindungen vorzubereiten. All dies geschieht relativ schnell: Genau 63 Minuten nach der Auftrennung können beide Teilnetze synchronisiert und wieder zusammengeschaltet werden. Doch auch danach gibt es noch einigen Gesprächs- und Koordinierungsbedarf, um das Gesamtsystem wieder in den Normalzustand mit den geplanten Einspeise-Fahrplänen und Austauschprogrammen zurückzubringen.
Erst dann können sich David Hilbert und Felix Klein darum kümmern, die Geschehnisse des frühen Nachmittags detailliert zu dokumentieren. Das wird einige Stunden in Anspruch nehmen, aber zum Schichtwechsel um 21 Uhr können sie ihren Arbeitsbereich „besenrein“ an die nachfolgenden Kollegen übergeben.
Mehr zu Netzen in Europa
Kommunizierende Röhren – die europäischen Gasnetze können mehr, als man denkt. Zum Artikel
Grenzüberschreitend mobil – wie E-Autos die europäischen Flottengrenzwerte erreichen sollen. Mehr erfahren
Eine für alles – so soll die europäische Wasserstoffwirtschaft funktionieren. Zum Artikel
Zurück zur Magazin-Übersicht Netze