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Vom Vier-Augen-Prinzip im KI-Zeitalter

Künstliche Intelligenz kann die Energienetze bei ihren künftigen Aufgaben unterstützen. Der Mensch bleibt dabei unverzichtbar.

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© Merle Schenker / BDEW

 

Sonne und Wind als die beiden wichtigsten erneuerbaren Energiequellen fordern das Stromnetz heraus. Solange es noch keine Speichertechnologien im Großmaßstab gibt, steht und fällt die Verfügbarkeit der Solar- und Windenergie damit, ob und wie stark etwa die Sonne scheint oder der Wind weht. Da diese Art der Energieerzeugung nicht durchgehend planbar ist, kann sie auch nicht ohne Weiteres auf den jeweils aktuellen Strombedarf angepasst werden.

Mit dem Anspruch, die Netze sicher und kundenfreundlich zu gestalten, loten deshalb zahlreiche Forschungs- und Entwicklungsprojekte die Potenziale intelligenter Systeme und selbstlernender Algorithmen aus. Mithilfe künstlicher Intelligenz sollen das Angebot und die Nachfrage nach regenerativer Energie besser synchronisiert, Lieferengpässe vermieden und die Instandhaltung von Kabeln und Leitungen digitalisiert werden.

Daraus erwachsen neue Anforderungen an die Expertinnen und Experten, die als Sparringspartner intelligenter Systeme und als finale Kontrollinstanz auch zur Sicherheit der Energieversorgung als kritischer Infrastruktur beitragen. Wie sich die Mensch-Maschine-Kommunikation für die Zukunftsfähigkeit der Energienetze nutzen lässt, veranschaulichen vier Beispiele aus der Praxis.

E-Mobilität am Netz: Intelligentes Laden als Erfolgsgeheimnis

Wie kann künstliche Intelligenz dazu beitragen, die Elektromobilität in den Städten so zu organisieren, dass sie die örtlichen Stromnetze nicht überlastet und zugleich möglichst viel Ökostrom für die E-Autos genutzt wird? Dieser Frage widmete sich das Projekt ENGIMO. Im Zentrum: eine Mehr-Parteien-Gewerbeimmobilie mit Parkgarage. Die Aufgabe: ein skalierbares E-Mobilitätskonzept für diesen Immobilien-Typus, der in Großstädten weit verbreitet ist. Die Lösung: eine Photovoltaik-Anlage auf dem Dach, die für zusätzlichen Strom sorgt, sechs Ladepunkte für Elektrofahrzeuge in der ersten Ausbaustufe und ein KI-basiertes Lastmanagement, um den PV-Strom dann nutzbar zu machen, wenn er verfügbar ist.

Dabei fließt die Photovoltaik-Energie direkt in die Elektromobilität. Voraussetzung dafür sind Algorithmen, die den Strombedarf zuverlässig hochrechnen und mit den vorhandenen Energiekapazitäten abgleichen können. „Durch intelligentes Laden und ein Management, das die Gebäudelast, die Photovoltaik-Einspeisung und die Nachfrage koordiniert, konnten schließlich mehr Fahrzeuge mit Strom versorgt werden als zuvor, ohne den Stromanschluss ausbauen zu müssen“, resümiert Benedikt Hanke vom Projekt ENGIMO, an dem unter anderem das Institut für vernetzte Energiesysteme des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) beteiligt ist.



Bis sich solche Modelle flächendeckend umsetzen ließen, seien aber noch zahlreiche Fragen zu klären, so der Diplomingenieur: zum Beispiel in Hinblick auf die Rechtssicherheit für Vermieter beim Weiterverkauf des Stroms an diejenigen, die ihre E-Autos tagsüber laden möchten. Für diese Klientel müssten zudem Anreizsysteme entwickelt werden, um sie zu mehr Flexibilität zu bewegen. „Von niedrigeren Strompreisen profitiert schließlich nur, wer nicht darauf besteht, sein Auto so schnell wie möglich vollgeladen vorzufinden.“ Darüber hinaus sei es für die Zuverlässigkeit der intelligenten Systeme unerlässlich, neue Methoden für die Kontrolle von KI-Entscheidungen zu entwickeln, sodass künftig zum Beispiel Messdienstleister neben der Verbrauchsprüfung auch die Kontrolle von KI-Entscheidungen übernehmen könnten, erklärt Hanke: „Um Fehler in automatisierten Prozessen, die in vielen Fällen ohnehin schwer nachvollziehbar sind, als solche erkennen zu können, sollten wir alle lernen, wie digitale Prognosetools funktionieren.“


Gefragte Dienstleistung: Vorausschauende Wartung als Smart-Service-Leistung 

Droht dem Stromnetz die Überlastung? Weil die Anzahl von Solar- und Windkraftanlagen kontinuierlich steigt, werden die netztechnischen Anlagen immer stärker beansprucht. Für die wachsende Zahl an Elektroautos werden zudem immer mehr Ladesäulen ans Stromverteilnetz angeschlossen. Wie lässt sich der Umbau des Energiesystems unter diesen Gegebenheiten vorantreiben, ohne dass die Versorgung trotz der immer häufigeren Schwankungen im Netz darunter leidet?

Um abschätzen zu können, wo voraussichtlich Überkapazitäten entstehen, die an anderer Stelle dringend gebraucht werden, sind neben einem intelligenten Lastmanagement ausgefeilte Sensorik-Systeme nötig. Ebenso wichtig sei, den „Gesundheitszustand der Netze“ zu erhalten, sagt Dr. Gunnar Schomaker, R&D Manager Smart Systems. Hier setzt das Projekt FLEMING an: Das Konsortium besteht aus den Partnern ABB, dem Forschungsinstitut für Rationalisierung e.V. (FIR), der Heimann Sensor GmbH, dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT), der Städtische Werke Überlandwerke Coburg GmbH (SÜC) und dem SICP – Software Innovation Campus Paderborn.

Im Zentrum stehen unter anderem Systeme, die die Wahrscheinlichkeit von Ausfällen berechnen und eine vorausschauende Wartung („predictive maintanance“) ermöglichen. Ein weiteres Ziel ist das Ausloten neuer Geschäftsmodelle für ein wachsendes Wertschöpfungssystem. „Auf Basis der Analyse-Tools soll ein Smart-Service-System konzipiert werden: eine KI-basierte Dienstleistung, die auch zukünftig auf die Mensch-Maschine-Kommunikation angewiesen ist“, betont Dr. Christoph Weskamp (R&D Manager Digital Business). Denn obwohl die Vorgänge in den netztechnischen Anlagen meist automatisiert abliefen und man für Wartungsarbeiten heute vielfach Drohnen einsetze, bleibe der Mensch unersetzlich. Weskamp: „Es wird immer den Punkt geben, an dem Techniker zur Schaltanlage fahren und ein Problem vor Ort lösen müssen.“ 

SmartWind: „Man muss lernen, Verantwortung mit der KI zu teilen“

Ob an Land oder auf See: Deutschlandweit werden auch im Zuge der Energiewende immer mehr Windparks errichtet. Zugleich sind deren Nutzung, Lebensdauer und Effizienz noch ausbaufähig. Das europäische „SmartWind“-Projekt unter Leitung des türkischen Unternehmens Enforma, an dem auch der Lehrstuhl Energiesystemtechnik und Leistungsmechatronik der Ruhr-Universität Bochum (RUB) beteiligt ist, setzt dazu auf eine KI-basierte Datenanalyse.

Zum Beispiel lässt sich damit beim Aufbau eines Windparks der ideale Abstand zwischen den Anlagen berechnen. Zum zentralen Steuerungselement wird eine Cloud-Plattform, die alle Informationen – von Inspektionsprotokollen bis zu den Einspeisungsdaten – auswertet und den Wartungsstatus automatisch überprüft. Währenddessen können intelligente Systeme lernen, die Erwärmung bestimmter Bauteile als Vorboten möglicher Materialschäden zu deuten – und so das Risiko von Blackouts minimieren.

Die Herausforderung: Alle Windparks müssen individuell und weitgehend selbstständig von der KI gesteuert werden, und zwar je nach lokalem Windangebot und Energienachfrage. Möglich wird das dank Algorithmen, die imstande sind, eine Vielzahl von Parametern parallel zu berücksichtigen, während Menschen nur sequenziell denken und Aufgaben nacheinander lösen können. Ein wenig „digitale Bevormundung“ in der Arbeitsteilung sei daher unvermeidlich, so Constantinos Sourkounis, Leiter der deutschen Projektarbeitsgruppe. „Man muss lernen, Verantwortung mit der KI zu teilen und arbeitsteilig zu kooperieren.“ 


Navigationssysteme für die Netze von morgen 

Ein knackig kalter Winter, eine entsprechend hohe Gasnachfrage und gleichzeitig Liefereinschränkungen aufgrund technischer Probleme in einer wichtigen Gasförderanlage:  Auch in solchen Situationen müssen die Gasnetze so steuerbar sein, dass die Versorgung dauerhaft stabil bleibt. Lagen entsprechenden Notfallplänen bisher statistische Erfahrungswerte zugrunde, bieten intelligente Systeme neue Potenziale. Diese erforscht unter anderem der Gastransporteur Open Grid Europe GmbH (OGE).

Die volatilen Prozesse von Gasnachfrage und -angebot in den Energienetzen präzise zu koordinieren, erfordert mathematisch hoch anspruchsvolle Modelle, für deren Berechnung OGE bereits auf komplexe digitale Prognose-, Simulations- und Instandhaltungstools setzt. „Ein Navigationssystem auf der Grundlage selbstlernender Algorithmen, das eine vollautomatisierte Planung und Steuerung ermöglicht, ist allerdings noch Zukunftsmusik“, stellt Ralf Werner, CIO bei OGE, klar. Als andere große Herausforderung nennt er die Weiterentwicklung der OGE zum „Infrastruktur-Dienstleister für grüne Gase“.

Zum Beispiel analysiere man derzeit, inwieweit sich die Gasinfrastruktur auch für den Transport von Wasserstoff eignet, da Wasserstoff grundlegend andere Eigenschaften aufweist als Erdgas. Ein weiteres Forschungsthema ist der künftige Einsatz von Blockchain-Verfahren mit dem Fokus auf Prosumer, also Kundinnen und Kunden, die Energie nicht nur konsumieren, sondern selbst herstellen und ins Netz einspeisen. Solche Blockchain-Verfahren sollen einen Energiemarkt ermöglichen, auf dem alle in der Lage sind, gleichermaßen zu produzieren und zu konsumieren. Um entsprechend komplexe Monitoring-Szenarien am Computer entwerfen zu können, sei von Fachleuten neben Datenanalyse und -design auch Expertise im Cloud-Computing gefragt.

Doch auch wenn das Handling der Energienetze ohne KI heute nicht mehr denkbar wäre, ist Werner überzeugt: Als sicherheitsrelevante Infrastruktur blieben die Energienetze auf eine Kontrollinstanz aus Fleisch und Blut angewiesen. Werners Resümee: „Das Vier-Augen-Prinzip hat auch im KI-Zeitalter Bestand. Und ein Augenpaar davon wird menschlich bleiben.“ 


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