Es ist Mitte Februar 2022, als das Orkantief „Ylenia“ über Deutschland hinwegfegt. Unter anderem kommt eine Solaranlage auf einem Scheunenach im nordrhein-westfälischen Kreis Soest zu Schaden. „Eine installierte Leistung von 300 Kilowatt Peak – circa ein Fünftel davon soll vom Dach geweht worden sein“, sagt Thomas Raatgering. Es ist ein Fall für ihn als Großschadenregulierer im Bereich Technische Versicherungen bei der R+V. Den Schaden schätzt er auf rund 100.000 Euro inklusive Betriebsunterbrechung. Als einer der Ersten ist Raatgering unterwegs zur Anlage, um die anstehenden Maßnahmen abzustimmen: „Wenn etwa Module am Dach herunterhängen, muss die Anlage stromlos geschaltet werden.“ Was ist über die Police gedeckt? Wie kommt die Anlage möglichst schnell wieder in Betrieb? Ist eine Reparatur möglich oder muss eine Ersatzmaschine her? – Fragen, auf die der gelernte Maschinenbauer Antworten sucht.
Schutz von der Montage bis zum Betrieb
Wie andere Anbieter hat auch der Arbeitgeber von Thomas Raatgering das Fachwissen gebündelt – im „R+V KompetenzZentrum Erneuerbare Energien“. Seit 20 Jahren wächst der Erfahrungsschatz der Versicherer auf diesem Gebiet. Angesichts der Innovationskraft in den Geschäftsfeldern Wind, Photovoltaik und Biogas muss die Branche immer neue Produktideen entwickeln, um für die aktuellen Trends gewappnet zu sein. Das verlief nicht immer reibungsfrei: Mangels Schadenstatistiken über die anfänglich zu versichernden Prototypen habe es hohe Ausfälle gegeben, erinnert man sich heute. Schäden, die die Anbieter in den frühen Jahren regulierten, kosteten sie das Dreifache der Prämien. Doch dann gewann die Assekuranz Routine im Energiewende-Geschäft. Ein Geschäft, das auch in den Bilanzen der Versicherer längst keinen Exotenstatus mehr hat: Bei stetigem Wachstum entfallen mittlerweile rund 16 Prozent des Prämienvolumens auf den Bereich der Erneuerbaren Energien, bestätigt der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV).
Das heutige Angebot der Versicherungsbranche an Unternehmen und Privatleute, die Anlagen zur Gewinnung Erneuerbarer Energien betreiben, beschreibt Anja Käfer-Rohrbach, stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Branchenverbands GDV: „Wir begleiten die Energiewende auf drei Ebenen. Die erste ist die Bauphase mit der Projektversicherung, etwa eine Montageversicherung. Dann gibt es den Transport, etwa von Rotorblättern und Gondeln. Als drittes gibt es die Betriebsphase.“ Photovoltaik, Windkraft, Biogas – welche Policen die Risiken des Betriebs decken, darüber entscheidet nicht zuletzt der Anlagentyp: Für Windenergieanlagen etwa ist eine Maschinen- und eine Betriebsunterbrechungsversicherung Standard, während eine Photovoltaikanlage statt der Maschinen- einer Elektronikversicherung bedarf. Ist eine Biogasanlage zu versichern, gilt den Motoren und dem Blockheizkraftwerk das Hauptaugenmerk. Ebenfalls wichtig für alle, die für grünem Strom Einspeisevergütungen erhalten, ist eine Deckung gegen Ertragsausfall infolge von Betriebsunterbrechung.
Natur trifft Erneuerbare: Bildergalerie
Nicht zuletzt Schäden, die die Anlagen anzurichten vermögen, können immens sein: Ein eindrückliches Beispiel ist der übelriechende Inhalt der Fermenter von Biogasanlagen, der durch Lecks austreten und angrenzende Häuser und Flächen verwüsten kann. Die Kosten fürs Aufräumen und die Dekontamination können für Betreiber existenzbedrohend sein. Auch naheliegende Gefahren wie etwa Feuer sind nicht zu unterschätzen: „Wenn es zu einem Brand in der Gondel kommt, ist eine Windkraftanlage nicht zu retten“, sagt Raatgering. Denn zu Brandherden in derartigen Höhen kann die Feuerwehr nicht vordringen. Für Schäden, die Dritten dadurch entstehen, gibt es Haftpflichtpolicen.
Risiken richtig kalkulieren
Vor dem Abschluss der Police das jeweilige Risiko einzuschätzen heißt im Versicherungsjargon „Underwriting“. Jens Becker, Leiter der Abteilung Technische Versicherungen bei der R+V, gibt ein Beispiel: „Bei einer Photovoltaikanlage entscheidet neben der Kilowatt-Zahl und dem Preis der Anlage auch der Standort: Wo sie sich befindet und was im Gebäude darunter gelagert wird, ist wichtig. Bei Reifen oder Heuballen ist das Brandrisiko anders als bei Tonziegeln.“ Seit den Flutereignissen des vergangenen Sommers interessiert die Fachleute außerdem die Distanz zum nächsten Gewässer.
Nicht von Beginn an war die korrekte Risikoeinschätzung für Ökostromanlagen eine leichte Aufgabe für Versicherer: Mangels Schadenstatistiken über die anfänglich zu versichernden Prototypen habe es hohe Ausfälle gegeben, erinnert man sich heute. Schäden, die die Anbieter in den frühen Jahren regulierten, kosteten sie das Dreifache der Prämien. Doch dann gewann die Assekuranz Routine im Energiewende-Geschäft. Dass es lohnenswert wurde, zeigt die Zahl des GDV von 16 Prozent, die die Anlagen am aktuellen Prämienvolumen der Versicherer ausmachen. Zwar würden nach den leidvollen Lehrjahren heute nur noch in Einzelfällen Prototypen versichert, da diese bedingungsmäßig meist ausgeschlossen seien, erklärt Käfer-Rohrbach. Doch wagen sich die Anbieter durchaus auf neues Terrain wie Wasserstoff vor. „Die Unternehmen gehen weitgehend alle mit, denn die Technik bei der Produktion von Wasserstoff ist bereits bekannt. Jetzt geht es ums Hochskalieren“, sagt Anja Käfer-Rohrbach vom GDV. Auch für weitere Abschlüsse im bereits etablierten Anlagensegment stehen die Zeichen günstig. „Nach dem Atom- und dem beschlossenen Kohleausstieg geht die Kurve neuer Anlagen für Erneuerbare wieder nach oben. Auch im Zuge der jüngsten Klimadiskussion merken wir, dass der Ausbau anzieht“, so Jens Becker.
Die Photovoltaik-Anlage, vor der Raatgering steht, ist dem Orkan zum Opfer gefallen. Noch sind Extremwetterereignisse nicht die Hauptschadensursache, doch sein Kollege Becker schätzt den Anteil an elementaren Schäden im Gegensatz zu vor 15 Jahren als mindestens verdreifacht. Das nächste Sturmtief ist bereits für den Folgetag vorhergesagt: Auch „Zeynep“ wird zu den Wetterphänomenen gehören, die aus dem Februar 2022 im Gedächtnis bleiben.
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