Wer ein Gefühl dafür bekommen möchte, wie sich die Wiederverwendung von Solarmodulen in den letzten Jahren entwickelt hat, der kann es auf einem Werkshof im nordrhein-westfälischen Marienhof bekommen: Vor fünf Jahren lagen hier bei der Firma Reiling aufs Jahr gerechnet rund 500 Tonnen Solarmodule und warteten aufs Recycling. Heute werden immer noch bis zu 500 Tonnen Module geliefert – aber jeden Monat.
Die Stapel werden weiter wachsen – und zwar deutlich. Für die Energiewende baut Deutschland im Rekordtempo Solar- und Windkraftanlagen. Als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine wurde die Schlagzahl nochmal erhöht. Die Herausforderung der nächsten Jahre: Jede Anlage hat eine begrenzte Lebensdauer – momentan gehen Fachleute von etwa 20 bis 30 Jahren für Photovoltaik-Module aus. Bedeutet auch: Da der Solarboom Anfang des Jahrtausends startete, steht die Welt aktuell vor einer PV-Entsorgungswelle. Amerikanische Medien warnen gar vor einem „Solar Trash Tsunami“. Wie geht die Branche damit um?
„Die Welle ist längst da“, sagt Benedikt Heitmann, zuständig für Forschung und Entwicklung bei der Reiling Unternehmensgruppe. Das seit 1957 auf Glas spezialisierte Unternehmen recycelt seit Mitte der 90er Jahre auch PV-Module. Früher vor allem Produktionsabfälle aus der PV-Industrie, nachdem die aus Deutschland abwanderte, gab es einen deutlichen Rückgang. Aber jetzt steigen die Mengen rasant. „Unsere drei Erstbehandlungsanlagen für Solarmodule reichen bald nicht mehr aus“, sagt Heitmann. „Daher werden wir nächstes Jahr in Münster das Kompetenzzentrum Photovoltaik-Recycling errichten.“ Dort sollen jährlich mehr als 10.000 Tonnen PV-Module recycelt werden – die 10.000 gilt als magische Zahl in der Branche, ab dieser Menge rentiert sich der Prozess.
Weltneuheit Silizium-Recycling
Reiling will nicht nur mehr recyclen, sondern auch effizienter. Daher hat das Unternehmen gemeinsam mit dem Fraunhofer-Center für Silizium-Photovoltaik ein neues Verfahren entwickelt. Bisher wird aus alten PV-Modulen meist Glas und Aluminium wiedergewonnen – zusammen mehr als 80 Prozent der Modulmasse. Durch das neue Verfahren wird auch Silizium und Silber wieder in den Rohstoffkreislauf zurückgeführt. „Wir haben einen skalierbaren Prozess entwickelt, der auch wirtschaftlich Sinn ergibt“, sagt Peter Dold, Leiter des Fraunhofer-Centers. „Im Labor ist vieles möglich, aber unser neues Verfahren hat sich für die Recyclingindustrie bereits in der Praxis bewährt.“ Das ist wahrscheinlich eine Weltneuheit – zumindest kennen die beiden Projektpartner niemanden, der Silizium in ähnlichen Mengen zurückgewinnt. Und das Potenzial des Verfahrens ist immens.
Die Welle in Zahlen
Die Internationale Organisation für erneuerbare Energien (IRENA) schätzt, dass weltweit bis 2030 mindestens 1,7 Millionen Tonnen Altmodule anfallen werden, zwanzig Jahre später 60 Millionen Tonnen – und das ist das zurückhaltende Szenario. Sollten viele Module weniger als 30 Jahre gebraucht werden, müssten 2030 bereits 8 Millionen Tonnen entsorgt werden. In der EU müssen alte PV-Module geprüft und wiederverwendet oder recycelt werden. Privatpersonen in Deutschland können Module kostenfrei beim Recyclinghof abgeben – die Hersteller bezahlen dann das Recycling. Betreiber von Solarparks zahlen selbst: Zwei bis drei Euro kostet das Recyclen eines Moduls bei Reiling.
Laut EU-Gesetzgebung müssen 80 Prozent des Modulgewichts recycelt werden. Diese Quote wird mit Aluminium und Glas bereits erfüllt, aber auch das restliche Material sollte aus ökologischen Gründen wiederverwertet werden. Die meisten Solarmodule bestehen zwar aus Rohstoffen, die laut Umweltbundesamt nicht knapp sind, allerdings ist deren Gewinnung energieintensiv. Silizium wird in Schmelz-Reduktionsöfen mit etwa 2.300 Grad Celsius aus Quarzsand gewonnen – der CO2-Fußabdruck ist dementsprechend hoch. „Wir gehen aktuell von ungefähr 20 Kilogramm CO2 pro Kilogramm hochreines Silizium aus“, sagt Dold. Im Fraunhofer-Center in Halle wird Silizium recycelt und somit der Fußabdruck verkleinert.
Sortieren, Ätzen, Schmelzen
Diesen Monat hat Reiling 20 Tonnen millimeterkleiner Modulbruchstücke nach Sachsen-Anhalt geliefert. Hieraus wird Peter Dold mit seinem Team innerhalb von zwei Wochen einen großen Block Silizium und einen kleinen Barren Silber extrahieren. Zuerst sortieren sie dafür die Bruchstücke und befreien sie von Glas und Kunststoff. Dann trennen sie durch mehrere nasschemische Ätzprozesse in Säurebädern andere Metalle wie Kupfer, Silber oder Aluminium ab, um stetig reiner werdendes Silizium zu gewinnen. Hat es den gewünschten Reinheitsgrad, wird es geschmolzen. In einem Prozess, der an Kerzenziehen erinnert, formen sie aus dem flüssigen Silizium schließlich einen zylinderförmigen Stab, einen sogenannten Ingot. Daraus schneiden die Mitarbeitenden am Fraunhofer-Center dann quadratische Wafer, die sie als Halbleiter in neuen PV-Module verbauen.
Da Silizium in PV-Modulen besonders rein sein muss, ist es laut Dold fragwürdig, ob dieser Prozess in Zukunft der wirtschaftlich sinnvollste ist. Aber es gibt auch andere Anwendungsmöglichkeiten: So wird der recycelte Rohstoff auch in der chemischen Industrie, der Keramikindustrie und der Batterieherstellung gebraucht. Dort sind die Reinheitsanforderungen geringer, was den Recyclingprozess vereinfachen und die Kosten verringern würde. Gut denkbar, dass auch diese Bereiche langfristig von dem neuen Verfahren profitieren.
Zuversichtlich in die Zukunft
Klar ist: Der Markt für industrietaugliche PV-Recyclingverfahren wird wachsen. Laut einer IRENA-Prognose haben die technisch verwertbaren Rohstoffe aus PV-Paneelen bis 2030 einen Wert von bis zu 450 Millionen US-Dollar. Bis 2050 könnte der Wert auf 15 Milliarden US-Dollar steigen. Zudem werden durch das PV-Recycling neue Industriezweige und Arbeitsplätze entstehen. Spürbar ist das schon jetzt bei Reiling – für den neuen Standort in Münster will das Unternehmen mindestens fünf neue Mitarbeitende einstellen.
Benedikt Heitmann schaut optimistisch in die Zukunft: „Wir sehen großes Potenzial im PV-Recycling. Der Markt wird in den nächsten Jahren extrem spannend werden. Wichtig ist, dass wir uns kontinuierlich weiterentwickeln.“ Eine große Aufgabe für Wirtschaft und Forschung ist beispielsweise das effizientere Recycling der Glasbruchstücke. Bisher endet deren Lebenszyklus in Isoliermaterialien wie Glaswolle. Am Fraunhofer-Center soll das in Zukunft optimiert werden. „Es ist ein notwendiger Schritt, dass wir Glas in einer Qualität recyclen können, in der wir es wieder in den Glaskreislauf zurückbringen können“, so Dold. Trotz der Herausforderungen blickt er gelassen auf die Entsorgungswelle: „Wir können ja relativ genau berechnen, was auf uns zukommt – und wir sind gut vorbereitet.“
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