„Narrativ“ – ein Begriff aus den Geisteswissenschaften – ist heute ein Schlüsselwort des Energiesektors. Warum? Weil die Energiewende längst nicht mehr nur eine Frage technischer Innovationen ist. Sprache und Erzählungen sind zu unverzichtbaren Werkzeugen geworden, um Akzeptanz zu schaffen und den technischen Fortschritt zu gestalten.
Gute Geschichten berühren. Sie erzeugen Zuversicht, wecken Faszination und verbinden das technisch Machbare mit greifbaren Zukunftsbildern. Sie sind nicht bloß Begleiterscheinungen, sondern kulturelle Beschleuniger des Wandels. Die Popularität des Narrativ-Begriffs birgt eine zentrale Erkenntnis: Ohne überzeugende Erzählungen bleibt technologischer Fortschritt abstrakt und schwer verständlich. Erst Erzählungen schaffen Verbindungen zwischen dem technisch Machbaren und machen große Ideen greifbar – ein entscheidender Faktor für den Erfolg der Energiewende.
Politische Erzählungen: Von der Mondlandung zum Reallabor
Ein prägnantes Beispiel für die früheren Erzählungen der Energiewende bietet Peter Altmaier (CDU). 2012 verglich der damalige Umweltminister in einem Interview mit der WELT die Energiewende mit der amerikanischen Mondlandung - einem nationalen Großprojekt, das technologische Meisterleistungen mit gesellschaftlicher Mobilisierung vereint: „Jedes Land braucht im Laufe seiner Geschichte alle paar Jahrzehnte ein Projekt, das fasziniert und bannt. Das war die Mondlandung der Amerikaner, der Wiederaufbau und die deutsche Einheit. Und jetzt kommt die Energiewende: also Risiken ernst nehmen, aber noch stärker die Chancen umarmen“, sagte Altmaier.
In demselben Jahr verglich er die Energiewende mit einer „Operation am offenen Herzen der deutschen Volkswirtschaft“. Damit zeichnete er das Bild eines hochriskanten, aber heldenhaften Unterfangens – ein Narrativ, das Pathos und Dramatik nutzte, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Diese Rhetorik greift zurück auf das „Theater des Fortschritts“: große historische Wendepunkte, technologische Herausforderungen und ihre Beherrschung. Außerdem werden maskulin-heroische Bilder und die Idee einer zentral gesteuerten Mobilisierung für eine kollektive Aufgabe bemüht.
Wandel zu dezentralen Erzählungen
Mit der Zeit aber verschob sich der Schwerpunkt hin zu einer neuen Sprache: weniger pathetisch und dramatisch, dafür experimenteller und dezentraler. Auffällig ist, dass gegen Ende des vergangenen Jahrzehnts das Konzept der Reallabore die heroischen Erzählungen ablöste. Statt großer nationaler Bilder dominierten nun Projekt-Erzählungen von lokalem Lernen und regionaler Innovation. Die Energiewende wird hier nicht mehr als spektakulärer Kraftakt erzählt, sondern als kollektiver und vernetzter Prozess – ein stetes Ausprobieren und Anpassen. Reallabore bieten konkrete Erfahrungsräume, in denen neue Technologien unter echten Bedingungen getestet werden.
Sie sind in den Regionen verankert und spiegeln die Dezentralität des erneuerbaren Energiesystems wider. Es geht nicht mehr um heroische Visionen, sondern um die Vielschichtigkeit und Vielfalt einer gelebten Energiewende. Und letztlich geht man offen mit dem Sachverhalt um, dass es kein Lehrbuch für die Transformation oder die Lösung der Klimakrise gibt. Sondern dass alle Beteiligten stetig lernen müssen, ihre Ergebnisse gemeinsam zu überprüfen.
Von der Westküste in die Lausitz
Die Energiewende wird so ein geographisch und kulturell verankerter Prozess, geprägt von regionalen Identitäten und kollektiven Lernprozessen. Immer mehr Reallabore machen ihren Ortsbezug kenntlich: Von Westküste100 und dem Norddeutschen Reallabor geht die Reise hier über H2Wyhlen zum Energiepark Bad Lauchstädt und schließlich mit RefLau in die Lausitz. Anders gesagt: Die Energiewende spricht in unterschiedlichen Dialekten: Die Dezentralität des erneuerbaren Energiesystems findet ihren Ausdruck in ebenso dezentralen Geschichten.
Regionen erzählen Erfolge
Es geht aber nicht nur darum, dass sich mit dem Begriff Reallabore technische und sprachliche Größenordnungen angeglichen haben. Der entscheidende Vorteil liegt vielmehr darin, dass sie die Energiewende auf regionaler Ebene sichtbar und erfolgreich machen. Von Wildpoldsried im Allgäu über Nechlin in der Uckermark bis Ellhöft in Nordfriesland – es ist die Ebene der Energieregionen, -kommunen, -dörfer, auf der in den letzten Jahren die Erfolge der Energiewende am deutlichsten greifbar wurden.
Hier gab und gibt es die guten Nachrichten. Denn die Energiewende ist kein technisches Utopia mehr, sondern ein dynamischer Prozess, der von Menschen, Orten und ihren Geschichten geprägt wird und Früchte trägt. Es zeigt sich, dass sie technisch funktioniert, regionale Wertschöpfung möglich macht, Gemeinschaft bildet und viele der einstigen Gegnerinnen und Gegner überzeugt hat.
Von Helden zu Netzwerken
Wäre es nicht sinnvoll, dieses lokale Engagement stärker und systematischer in zukünftige Narrative zu integrieren? So wird die Energiewende nicht nur für die Menschen greifbarer, sie fände auch Anschluss an regionale wirtschaftliche Sektoren und kulturelles Erbe. Dabei konkretisieren sich die zahlreichen Chancen, nachhaltige Zukunftsaussichten für Gemeinschaften zu entwickeln.
Die Heldinnen und Helden der Energiewende sind keine Astronauten, sondern Ingenieure, Bürgermeisterinnen, Unternehmer und engagierte Bürger. Ihre Innovationen und ihr Engagement verwandeln jede Region auch in ein politisches und kulturelles Reallabor.
Natürlich haben auch die großen Erzählungen wie der Vergleich mit der Mondlandung weiterhin ihren Platz. Sie wecken Aufmerksamkeit und Motivation – wie auch das Narrativ der „Freiheitsenergien“, das 2022 im Zuge des Ukraine-Kriegs wiederbelebt wurde. Allerdings gilt auch hier, dass sich dieses große Narrativ nicht aufrechterhalten hat. Vielen regionalen Energiewendeprojekten kann man unterdessen weiter beim Wachsen zusehen.
Prof. Dr. Ingo Uhlig
lehrt am Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg. Er forscht zu Environmental Humanities mit dem Fokus Energiekulturen / Erneuerbare Energien, Energiewende und Klimaschutz im Spiegel von Gegenwartsliteratur und -kunst.
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