In den Redaktionen vieler Leitmedien arbeiten sogenannte Dokumentationsjournalisten. Sie wirken meist im Verborgenen: Ihre Aufgabe ist es, Texte vor der Veröffentlichung inhaltlich genau zu prüfen. Stimmen Zahlen, Daten und Fakten – und sind die aktuell? Werden Zitate richtig zugeordnet und Sachverhalte korrekt wiedergegeben? Beim Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ beispielsweise arbeiten 60 Faktenchecker. Dr. Marc Theodor ist einer von ihnen.
Herr Theodor, wie viele Sachaussagen prüfen Sie durchschnittlich pro Tag?
Das ist schwer zu beziffern: Das Aufkommen ist von Tag zu Tag sehr unterschiedlich. Auch dauert manch ein Faktencheck deutlich länger als ein anderer. Ganz grob würde ich sagen, dass ich im Schnitt täglich 80 – 100 Fakten überprüfe.
Wie unterscheiden Sie verlässliche Quellen von solchen, die Fake News verbreiten?
Entscheidend ist im Wortsinne die Quelle, also: Wo kommen die entsprechenden Fakten eigentlich her? Steckt hinter der Veröffentlichung eine wissenschaftliche Institution oder eher eine Interessenvertretung? Gibt es Quellen hinter der Quelle, beispielsweise Studien? Bei Studien prüfe ich, wer sie in Auftrag gegeben hat und ob die eingesetzte Methodik wissenschaftlich haltbar ist.
Werden Fachleute aus der Wissenschaft zitiert, achte ich darauf, die entsprechende Person auf dem Gebiet renommiert und bewandert ist. Skeptisch werde ich immer dann, wenn sich jemand äußert, der mir fachfremd erscheint, wenn also beispielsweise ein Bauingenieur etwas Gewichtiges zum Thema Atmosphärenphysik sagt.
Welche Mythen zum Thema Energiewende begegnen Ihnen am häufigsten?
Unsere Redakteurinnen und Redakteure sind schon sehr gut darin, Mythen frühzeitig zu erkennen und nicht in ihre Texte einfließen zu lassen. Da findet schon eine kompetente Filterung statt. Da der Klimawandel mein Fachgebiet ist, begegnen natürlich auch mir die klassischen Narrative: Sehr verbreitet ist die Aussage, der Klimawandel sei nicht menschengemacht. Häufig hört man auch, dass viel CO2 in der Luft doch zu begrüßen sei, weil dann die Pflanzen besser wüchsen.
Hier wird es interessant, denn grundsätzlich ist daran als Faktum zunächst nicht auszusetzen. Es stimmt sogar. Aber: Es wird dabei gern unter den Teppich gekehrt, wie drastisch die globalen negativen Auswirkungen eines zu hohen CO2-Gehalts in der Atmosphäre sind. Salopp gesagt: Bei Dürre, Überschwemmungen und anderen Extremwetterereignissen hilft den Pflanzen das zusätzliche CO2 dann auch nicht mehr viel.
Man kann also mit korrekten Fakten falsche Dinge sagen?
Genau. Sie können durch das Herausstellen eines an sich richtigen – aber im Zusammenhang völlig unerheblichen - Faktums mühelos ein falsches Narrativ aufbauen, wenn Sie den zur Einordnung unerlässlichen Kontext weglassen.
Wie wirken sich solche Fehlinformationen auf die öffentliche Wahrnehmung und die politische Diskussion aus?
Das ist ein großes Problem. Weil nicht jeder die Zeit, die Lust oder die Vorbildung hat, sich mit komplexen Themen wie etwa der Energiewende wirklich tiefgehend zu befassen.
Da sind die sozialen Medien sicherlich nicht hilfreich?
Absolut. Sie werden heute dort mit sich teils erheblich widersprechenden Info-Happen zugeschüttet. Die große Gefahr: Immer mehr Menschen fallen angesichts der Informationsflut in eine Art Lähmung. Gehen Sie beispielsweise in ein beliebiges soziales Netzwerk und schauen Sie, was dort über Elektroautos und private PV-Anlagen gesagt wird. Und obwohl Elektroautos sicherlich langfristig besser als Verbrenner sind und private Photovoltaik überwiegend Vorteile bringt, gibt es so viele Negativpolemik und widersprechende Äußerungen, dass sicherlich zahlreiche Menschen verunsichert sind und bestenfalls sagen: „Ich warte lieber noch ab, bevor ich mich für so etwas entscheide.“ So verschleppen wir wichtige Veränderungsprozesse zum Wohle der Energiewende.
Kann man als wissenschaftlich arbeitender Faktenchecker gegen das Social-Media-Getöse überhaupt noch ankommen?
Es fühlt sich schon manchmal so an wie das berühmte Wettrennen zwischen „Hase und Igel“. Ich werfe hier auch mal den Begriff KI in den Ring, denn ChatGPT und Co. sorgen bekanntermaßen vielleicht für mehr, aber auch nicht zwingend korrekte Fakten. Auf der anderen Seite bin ich fest überzeugt: Die Arbeit, die wir hier machen, wird immer wichtiger, gewinnt immer mehr an Bedeutung.
Wie kann ich selbst herausfinden, ob eine Quelle seriös ist?
Schauen Sie vor allem, wo die Information herkommt. Wer hat sie publiziert? Kann die Quelle Referenzen und Erfahrungen vorweisen, die Seriosität nahelegen? Der zweite wichtige Schritt ist der Doppel-Check: Ich wäre immer vorsichtig, wenn ich eine Information nur an einer einzigen Stelle nachlesen kann. Der Check, ob es auch andere Quellen gibt, die gleichlautendes sagen, gehört zum Grundrüstzeug jedes Journalisten. Und als drittes möchte ich immer auch den Perspektivwechsel empfehlen. Verlassen Sie die Echokammern und Filterblasen, die ihnen die sozialen Netzwerke mit ihren Algorithmen anbieten und lassen Sie andere Meinungen zu! Ein bisschen mehr Dialektik täte uns allen gut, sie kann unseren Horizont erweitern.
Welche Ausbildung braucht man, um als Faktenchecker beim SPIEGEL zu arbeiten?
Ein abgeschlossenes Studium ist sehr wichtig, unabhängig vom Fachgebiet. Wir sind hier eine diverse Truppe aus unterschiedlichen Fachbereichen: von der Medizinerin über den Sinologen und die Theologin bis hin zum Geologen. Entscheidend ist, dass man gelernt hat, methodisch und wissenschaftlich zu arbeiten. Außerdem braucht es die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen, viel Neugier – auch auf sachfremde Themen – und Spaß daran, über den Tellerrand zu blicken. Zu guter Letzt müssen Sie Willens und in der Lage sein, Dinge mal aus der Vogelperspektive, mal ganz detailversessen bis in die letzte Verästelung zu betrachten.
Macht Ihr Job Sie auch privat misstrauischer?
Ja, das kommt vor. Wenn man mit Freunden zusammensitzt und diskutiert, dann spüre ich schon manchmal den Drang, das eine oder andere Gesagte später am Abend nochmal nachzurecherchieren. Man muss auch gelegentlich aufpassen, dass man nicht zum Klugscheißer wird. Aber grundsätzlich würde ich mich nicht als misstrauisch bezeichnen. Und einer Person glaube ich immer, was sie sagt: meiner Frau.
Herr Theodor, vielen Dank für das Gespräch.
Dr. Marc Theodor
ist seit sieben Jahren in der Wissenschaftsdokumentation des SPIEGEL tätig. Der promovierte Geologe befasst sich dort überwiegend mit dem Themengebiet des Klimawandels.
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