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Neue Industrie durch neue Energie

Bis 2045 soll Deutschland klimaneutral sein. Doch schon heute sorgt der Umbau der Energieversorgung für neue, lukrative Industriezweige.

Illustration neue Industrie durch Erneuerbare Energie

© Monica Lourenco / BDEW

 

Sie steht noch. Das runde Mauerwerk strahlend weiß, der Turm mit schwarzen Schindeln, reckt die Windmühle „Aurora“ ihre Flügel in den Himmel der Gemeinde Weddingstedt im hohen Norden. Ein Leben als Relikt. Denn längst treiben hier, im tiefsten Schleswig-Holstein, nicht mehr Müller und Mehl die Wirtschaft voran, sondern andere Räder. Am Horizont hinter der Mühle kreisen sie in der Weite der Landschaft - die Rotoren der Windparks.

Die Energiewende in Deutschland verwandelt nicht nur die Art und Weise der Energieerzeugung. Sondern sorgt auch für neue Wirtschaftszweige. Ganze Industrien entstehen aus der neuen Art von Energie. Wo früher in manchen Landstrichen Kohle und Eisenerz ein wirtschaftliches Herz aus Stahl schlagen ließen, bringen heute Photovoltaik, Windkraft und bald auch Wasserstoff die deutsche Wirtschaft voran. Allein aus dem Betrieb von Anlagen der Erneuerbaren, von Wind bis Biomasse, entstand 2023 ein Umsatz von über 23 Milliarden Euro und sorgte für vollere Geldbeutel bei Städten, Gemeinden und Bürgern.

Northvolt in Heide: Von der Abwanderung zur Innovationsregion

Region Heide, Landkreis Dithmarschen, zwölf Kommunen zwischen Hamburg und Sylt. Flaches Land, steife Brise – und neue Ideen. Seit dem Jahr 2010 arbeiten hier Bürger, Politik und Verwaltung gemeinsam an einer neuen Wirtschaft, an einer neuen Zukunft. Mit einer klaren Grundlage: Erneuerbare Energien.

„Für uns ist grüne Energie eine Notwendigkeit für den Strukturwandel und nicht nur ein Antreiber“, sagt Dirk Burmeister. Der 59-jährige leitet seit über zehn Jahren die „Entwicklungsagentur Region Heide“. Zusammen mit derzeit siebzehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern soll Burmeister die vorhandene Wirtschaft der Region stärken. Aber vor allem: Neue Industrien ansiedeln.

„Ich kenne hier jeden Grashalm“, sagt Burmeister. Zwanzig Jahre lang arbeitete er als Bauamtsleiter in der Region, war in Kontakt mit Landwirten und Handwerkern, musste mit ansehen wie immer mehr junge Leute die Dörfer verließen, Betriebe in den Speckgürtel um Hamburg verschwanden und die übrigen Bewohner immer älter wurden. Allen war klar: Die Region blutete aus.

Heute ist die Lage eine andere, vor allem wegen eines Namens: Northvolt. Der schwedische Batteriehersteller für E-Autos zählt zu den Branchengrößen und galt lange Zeit als Hoffnungsträger der europäischen Automobilindustrie. Eine Hoffnung, die sich auch in der Eigentümerstruktur abbildet: Größter Anteilseigner ist Volkswagen. Analog mit den derzeitigen Schwierigkeiten um die massenweite Verbreitung der Elektromobilität ist allerdings auch Northvolt augenblicklich in Schwierigkeiten, derzeit läuft beim schwedischen Mutterkonzern ein Restrukturierungsverfahren.  An der Situation in Heide, wo ein wachsendes Team täglich unverändert und mit viel schwerem Gerät am Aufbau der Gigafactory arbeitet, ändert das gegenwärtig nichts, berichtet Burmeister. Während sich die Northvolt-Muttergesellschaft restrukturiert, geht es in Heide weiter. Aber womit eigentlich?

Herausforderungen und Chancen bei der Umsetzung nachhaltiger Industrie

Seit Anfang 2024 entsteht hier ein riesiges Werk. Eine Investition von 4,5 Milliarden Euro, unterstützt von 700 Millionen Euro durch Bund und Land und 900 Millionen Euro Fördermitteln und Garantien von der EU-Kommission. Geplant: Mehr als 3.000 Arbeitsplätze. Der ursprüngliche Zeitplan lässt sich – so viel steht bereits fest – allerdings nicht mehr halten. Im Jahr 2027 sollen die ersten Batteriezellen in Dithmarschen vom Band rollen – ein Jahr später als geplant. 

Wie es aussieht, gibt es in Heide gerade zwei Anforderungen: Zum einen der europäische Plan, „grüne“ Batterien für E-Autos zu bauen – und so unabhängiger vom Marktführer China zu werden. Zum anderen der Plan der Entwickler in Norddeutschland, ein Umfeld zu schaffen, in dem nachhaltiges und klimaschonendes Wirtschaften möglich ist. Und wie es aussieht, ist das eine gerade etwas leichter als das andere.  

Northvolt-Baustelle in Heide: Hier sollen Batterien entstehen

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 „Wir standen in Konkurrenz mit 140 Grundstücken in Europa“, sagt Burmeister, „da reichte es nicht, dass Heide den Schweden nur schöne Augen macht.“ Stattdessen meinte der damalige Vorstandschef Peter Carlsson, dass er zwar viele Grundstücke gesehen habe. Aber nur ein vorbereitetes Ökosystem. Und zwar in der Energiewende-Region Heide, so schildert es Burmeister.

Regionale Wertschöpfung durch Kreislaufwirtschaft und grüne Energie

In diesem Ökosystem ist Northvolt nur ein Name, wenn auch der bekannteste. „Unsere Frage war: Welche Industrien passen zu Grüner Energie?“, sagt Burmeister und berichtet von zehn Gigawatt Windstrom, den Heide aus der Nordsee bezieht, von Produktpipelines, mit der die Region zu Industrieparks in Schleswig-Holstein verbunden ist, von den Plänen zu synthetischen Treibstoffen und Wasserstoff-Elektrolyseuren.

„Wir haben geschlossene Kreislaufsysteme für Energie konzipiert“, fasst Burmeister Teile des Entwicklungsplans zusammen. Davon profitieren „Westhof Bio“ sowie weitere Unternehmen, die als national und international führende Gemüseproduzenten ihre ökologisch und konventionell erzeugten Produkte in Treibhäusern produzieren, die mit Abwärme der Industrie beheizt werden. Statt fossilem Gas kommt kostengünstige industrielle Abwärme aber auch Energie aus Biomasse, Solar oder Wind zum Einsatz.



Für Burmeister steht fest: Die Erneuerbaren haben eine einmalige regionale Entwicklung in Gang gesetzt. Sie verschafft vielen Gemeinden in der Region volle Kassen, aus denen beispielsweise Kitas und Schulen, aber auch die Aufwertung von Ortszentren und der Bau von Kinderspielplätzen bezahlt werden. Die Bürgerinnen und Bürger haben gemerkt, sagt Burmeister, dass die Erneuerbaren Geld und Entwicklungschancen bringen, so dass dem vielfach prognostizierten Niedergang des ländlichen Raumes ganz neue Zukunftsperspektiven entgegengesetzt werden können. „Wenn es den Menschen gut geht und Chancen auch für nachfolgende Generationen entstehen “, sagt Burmeister, „werden auch große Veränderungen akzeptiert und unterstützt.“

Akzeptanz der Energiewende: Was Bürger wirklich bewegt

Ortswechsel – Berlin. Akzeptanz ist auch der rote Faden des Projekts „Ariadne“ im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Genauer: Die Akzeptanz des „gesellschaftlichen Mammutprojekts Energiewende“, so der stellvertretende Leiter Professor Gunnar Luderer. Als Professor für Globale Energiesystemanalyse blickt der 47-jährige an der TU Berlin und dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung auf den technischen Fortschritt des großen Ziels Klimaneutralität in Deutschland: Grüne Energie, flexible Stromversorgung, Wärme- und Verkehrswende. Aber vor allem behält er die zentrale Säule der Energiewende im Auge: die Akzeptanz bei den Bürgern.

„Wir wollen mit Ariadne näher an die Menschen heranrücken, um zu erfahren, was die Energiewende in der Praxis für sie bedeutet“, sagt Luderer: „Was sind die Vorbehalte? Welche Entwicklungen sind politisch anschlussfähig und umsetzbar?“

Um diesen Austausch zu organisieren, richtet das Ariadne-Projekt seit 2020 unterschiedliche Formate aus, um Wissenschaftler und Bürger zu Diskussionen über künftige Energiewelten zusammen zu bringen – von Workshops über Konferenzen bis zu Bürgergipfeln. „Wir erarbeiten Kernbotschaften: Was ist den Bürgern wichtig?“, sagt Katja Treichel-Grass, Leiterin der Bürgerdeliberation im Ariadne-Projekt.



Zufällig aus dem Melderegister ausgewählt und zur Teilnahme eingeladen, gaben in der letzten Runde der Bürgerbeteiligung über 80 Teilnehmende einen Einblick: Was ist ihnen wichtig bei der Umsetzung der Energiewende? „Grundsätzlich befürworten Menschen deren Ziele“, sagt Treichel-Grass, „Bei vielen heißt es, eigentlich gerne - aber nicht direkt in meinem Garten, wenn ich nicht mitgestalten oder mit profitieren kann.“

Denn es gelte auch: „Wenn man die Bürger in die Prozesse mitnimmt, wird die Umsetzung eher unterstützt“, sagt Treichel-Grass. Verfahrensteilnahme, Bürokratieabbau, lokale Wertschöpfung – so fasst die 45-jährige die besten Mittel zusammen, um die Bürger von der Energiewende zu überzeugen. Statt allein mit Klimapolitik zu argumentieren. „Wir müssen darstellen, dass es Co-Benefits gibt, dass die Energiewende Kosten für den Bürger senken und eine Chance bieten kann für mehr Arbeitsplätze, Teilhabe und neue Geschäftsmodelle.“ Denn ohne Erneuerbare Energien, das steht für Treichel-Grass fest, komme das Land nicht voran.

Lausitz im Wandel: Von Braunkohle zu grüner Energie

Fortschritte durch eine grüne Infrastruktur erhofft sich auch die Region Lausitz. Die Lausitz ist Deutschlands zweitgrößtes Braunkohlerevier. Jährlich werden hier 60 Millionen Tonnen Kohle aus dem Boden geholt und sichern in der Region über 8.000 Arbeitsplätze. Noch immer graben sich Schaufelradbagger durch die Landschaft. Doch spätestens 2038 ist Schluss mit Tagebau und Kohlekraftwerken: Deutschland steigt aus.

„Die gesamte Wertschöpfungskette Kohle muss ersetzt werden“, sagt Heiko Jahn, Geschäftsführer der Wirtschaftsregion Lausitz GmbH. Wie Burmeister in Heide soll auch Jahn in der Region den nötigen Strukturwandel voranbringen und ideale Rahmenbedingungen für neue Industrien schaffen. Gesetzt ist: Die Lausitz soll eine Region für Energie bleiben. Doch mit einem grünen Gesicht statt kohlebraun.

Die Rolle von Fördergeldern bei der Transformation ländlicher Regionen

Das Potential allein für den Betrieb erneuerbarer Energien ist riesig. Wissenschaftler der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg berechneten für das Jahr 2040 rund 200 Millionen Euro an Einnahmen, allesamt Steuern, Einkommen oder Gewinne, die in der Region verbleiben.

Doch für neue Wertschöpfungsketten benötige die Lausitz Ansiedlungen von außen, sagt Jahn – neue Ideen, neue Industrien, die auf eine neue Energieinfrastruktur zurückgreifen wollen. Weil sie es müssen. „Im Grunde erhalten wir von Interessenten immer zwei Fragen“, sagt Jahn. „Gibt es einen Bahnanschluss? Haben wir Zugriff auf grüne Energie?“ Beidem kann Jahn zustimmen.



Dabei treiben auch die politischen Rahmenbedingungen die Nachfrage nach Erneuerbaren. Unternehmen kalkuliere bereits heute eine CO2-Neutralität perspektivisch in ihren Businessplan ein. Ob die mit Hilfe von Sonne, Wind oder Wasserstoff erreicht wird, sei nur eine Detailfrage.

Finanziell unterstützt wird der geplante Wandel durch milliardenschwere Fördergelder der EU, Deutschlands und der Bundesländer. Auch damit können zum Beispiel im geplanten Industrie- und Gewerbegebiet „Spreewalddreieck“ Rückbauarbeiten auf dem Gelände des ehemaligen Braunkohlekraftwerks beginnen. Über die Hälfte der Fördergelder wird in Forschung und Wissenschaft investiert, sagt Jahn. So soll die Wissenschaft Prototypen wie neue Karbonfasern oder alternative Antriebe für den Luftverkehr entwickeln. Und Unternehmen diese Ideen zu marktreifen Produkten weiterentwickeln. Mit Gewinn.

Doch genau da liege auch das Restrisiko, sagt Jahn. Die Forschung mag funktionieren. Aber nicht unbedingt die Umsetzung in die industrielle Produktion. Somit bilden Erneuerbare Energien die Grundlage für neue Wertschöpfungsketten.

Aber am Ende entscheidet weiterhin ein recht launischer Kandidat über Erfolg und Misserfolg der entstandenen Produkte: der Markt selbst.

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