Wer sich einer beliebigen niederländischen Stadt mit dem Zug nähert, der kann sich auf eines verlassen: Er wird unweit des Bahnhofs vollgepfropfte Fahrradstellflächen und -parkhäuser erblicken. Zurzeit baut Utrecht das größte Fahrradparkhaus der Welt: mit einer Stellfläche von 17.000 Quadratmetern und einer Kapazität von 12.500 Fahrrädern. Die besondere Affinität der Niederländer zum "Fiets" ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass das Land überwiegend flach und damit gut zum Radfahren geeignet ist: Es waren die hohe Zahl der Verkehrstoten – mehr als 3.300 im Jahr 1971 – und die Ölkrise, die die niederländischen Kommunen zum Umdenken und zum Aufbau eines nachhaltigen Fahrradwegkonzepts motivierten.
Achtsamkeit statt Direktiven
Man kann den Niederländern generell eine kreative Verkehrspolitik attestieren: Bereits in den 1970er-Jahren wurde dort das Verkehrsberuhigungskonzept "Woonerf" (deutsch: Wohnhof) entwickelt. »Schauen statt Schilderwald« lautet hier die Devise – Straßenräume sind nicht per se dem Auto gewidmet, sondern gleichberechtigte Verkehrsflächen für Fußgänger, Rad- und Autofahrer. Es gibt keine Straßenbegrenzungen und auch keine Schilder, ähnlich wie in einer Spielstraße müssen die einzelnen Verkehrsteilnehmer aufeinander Acht geben, ihre Geschwindigkeit anpassen und gegebenenfalls miteinander kommunizieren. Nach ersten Pilotinstallationen breitete sich das Konzept landesweit aus, 20 Jahre später gab es bereits mehr als 2.700 solcher Zonen.
Strom? Läuft!
Auch was die Elektromobilität angeht, gehören die Niederlande derzeit zu den führenden Nationen Europas. Heute sind dort bereits 120.000 elektrisch betriebene Fahrzeuge unterwegs. Das sind mehr als in Deutschland, obwohl Deutschland fast fünfmal so viele Einwohner hat. Bei Neuzulassungen haben Elektroautos in den Niederlanden inzwischen einen Marktanteil von zehn Prozent. Das liegt unter anderem an zwei wichtigen Standortvorteilen: Zum einen hat das Land eine geringe Grundfläche, die Reichweitenprobleme erst gar nicht aufkommen lässt – die längste Entfernung auf der Nord-Süd-Achse beträgt gut 250 Kilometer und auf der Ost-West-Achse etwa 130. Zum anderen gibt es in den Niederlanden keine alteingesessenen Kfz-Hersteller für den Massenmarkt – und damit keine Verbrennungsmotorlobby. Ganz im Gegenteil: Elektromobilität wird ganzheitlich als Konjunktur- und Exportmotor betrachtet. So fährt Europas größte ÖPNV-Elektrobusflotte mit über 40 Fahrzeugen in Eindhoven – mit Bussen von VDL "made in The Netherlands ". Und niederländische Ladeinfrastrukturunternehmen expandieren inzwischen in alle Welt.
Seit zehn Jahren aktiv für die Energiewende
Dass die Elektromobilität in den Niederlanden ein Erfolgsmodell ist, hat neben Standortvorteilen auch politische Gründe. Kurt Sigl, Präsident des Bundesverbandes eMobilität: "Im Unterschied zu Deutschland sehen wir in den Niederlanden schon seit viel längerer Zeit einen klaren politischen Willen. Der Regierung ist es gelungen, durch strukturiertes und beherztes, zuweilen auch hemdsärmeliges Vorgehen bei allen Beteiligten Begeisterung für das Thema zu entfachen."
Tatsächlich berief das niederländische Ministerium für Transport bereits 2008 eine Expertenkommission für die Elektrifizierung des Transportsektors ein. Ein Jahr später wurde ein nationaler Aktionsplan für Elektromobilität verabschiedet – mit konkreten Absatzzielen für elektrische Fahrzeuge und die Ladeinfrastruktur. Koordiniert wurden die Aktivitäten durch die Experten- und Stakeholdergruppe Formula-E-Team. Ebenfalls schnürten die Niederländer bereits 2008 ein attraktives Paket zum Anschub der privaten, gewerblichen und kommunalen Elektromobilität: mit teils erheblichen Zuschüssen und Steuererleichterungen für Stromer und Hybridfahrzeuge, von denen allerdings einige Subventionen im Jahr 2015 ausliefen. "Ein kluges Konzept", so Kurt Sigl. "Auf diese Weise schafft man zu Beginn schnell eine kritische Masse und setzt Anreize. Mit der Zeit – das sehen wir jetzt – werden die Elektroautos sukzessive erschwinglicher; die Preisdifferenz wiegt den Wegfall der einen oder anderen Steuererleichterung auf."
Heute wird die Anschaffung von Elektroautos in den Niederlanden in erster Linie bei Dienstwagen gefördert. Bei Dieselfahrzeugen muss der Nutzer bis zu 20 Prozent des Neuwerts als geldwerten Vorteil versteuern, wenn er das Kfz privat nutzt. Handelt es sich indes um ein Elektroauto, dann ist er von dieser Steuer vollständig befreit.
Die frisch gegründete niederländische Regierungskoalition führt die Aufbauarbeit von 2008 kontinuierlich fort. Sie konnte sich im Herbst 2017 darauf verständigen, dass ab 2030 keine Neufahrzeuge mehr mit Benzin- oder Dieselmotoren zugelassen werden dürfen. Insgesamt will die amtierende niederländische Regierung – Stand November 2017 – für die Energiewende einen Betrag von vier Milliarden Euro bereitstellen.
Ladesäulen nach Bedarf
Einen wichtigen Punkt machten und machen die Niederländer bei der Ladeinfrastruktur. Anstatt nach dem Gießkannenprinzip mal hier, mal dort Ladesäulen aufzustellen, blickte man in Holland von Anfang an auf den reellen Bedarf. Und der Staat beteiligt sich mit Förderprogrammen an der Aufstellung von Ladestationen. Wer in Ballungsräumen ein Elektroauto kauft und in der Nähe seines Stellplatzes keine Ladesäule vorfindet, der kann unbürokratisch Bedarf bei der Stadt anmelden – welche sodann eine zeitnahe Bereitstellung einer Ladesäule in der Umgebung zusichert. Auf diese Weise haben die Niederlande innerhalb weniger Jahre mit über 27.000 Ladestationen nicht nur das dichteste Ladesäulennetz Europas geschaffen, sondern auch ein gut ausgelastetes. Ein wichtiger Player ist an dieser Stelle der 2012 gegründete niederländische Konzern Fastned, der sich die Rechte für den Bau von Schnellladestationen auf 201 Autobahnraststätten gesichert hat; 63 dieser Standorte von Aalscholver bis Witte Molen sind derzeit bereits realisiert. Jetzt expandiert Fastned nach Deutschland und arbeitet unter anderem mit der Hotelkette Van der Valk zusammen. Deren Direktor Vincent van der Valk ist zufrieden: "Unsere Hotels stehen in der Nähe wichtiger Verkehrsachsen. So können wir Kunden und Nutzern von E-Fahrzeugen Schnelllademöglichkeiten anbieten, ohne dass wir selbst in die Infrastruktur investieren oder sie betreiben müssen. Fastned kümmert sich um alles, inklusive des reibungslosen Betriebs der Ladestation. Eine klare Win-win-Situation."
Prof. Dr. Henning Kagermann, Vorsitzender der Nationalen Plattform Elektromobilität, stellt den Niederlanden beim Thema Ladesäulen ein gutes Zeugnis aus:
Die Niederlande waren schnell bei der Errichtung der Ladeinfrastruktur. Wissenschaft, Wirtschaft und Regierung haben hier gut zusammengearbeitet.
Doch auch hierzulande sieht Kagermann große Fortschritte, denn man sei mit der branchenübergreifenden Zusammenarbeit innerhalb der Nationalen Plattform Elektromobilität gut aufgestellt.
Mit dem Förderprogramm der Bundesregierung für 15.000 Ladesäulen in Deutschland und dem Programm für 400 Schnellladesäulen an Autobahnraststätten haben wir jetzt die Chance, zügig aufzuholen und den bedarfsgerechten Ausbau voranzubringen. Der erste Förderaufruf wurde sehr gut angenommen – im zweiten Aufruf wurde die Fördersumme deshalb auf 100 Millionen Euro heraufgesetzt. Dies zeigt: Die Maßnahmen wirken, viele standen schon in den Startlöchern.
Das ganze System im Blick
Es wäre zu leicht, die Niederländer als reine Musterschüler zu betrachten. Ein kleines Land mit kurzen Wegen und ohne Verbrennungsmotorlobby kann die für die Energiewende notwendigen Transformationsprozesse schneller und risikoloser umsetzen als Deutschland, wo die Automobilindustrie einen zentralen Pfeiler der Konjunktur und des Arbeitsmarkts darstellt. Nichtsdestotrotz ernten die Niederlande nun die Früchte einer langfristig angelegten und vorausschauenden Verkehrspolitik, die bereits seit knapp 40 Jahren nicht nur auf das Auto setzt, sondern stets auch alternative Arten der Fortbewegung im Blick hat.
Was wir lernen können: Es lohnt sich nicht nur in puncto Klimaziele, sondern auch mit Blick auf Konjunktur, Export und Verkehrssicherheit, das Thema Mobilität als großes Ganzes zu betrachten. Kagermann glaubt, dass innerhalb dieses Systems die Einzelelemente noch besser verzahnt werden können: "Wir müssen vor allem die Installation privater Ladepunkte erleichtern und die rechtlichen Rahmenbedingungen im Miet- und Wohnungseigentumsrecht verbessern – denn derzeit kann ein Mieter oder ein Mitglied einer Wohnungseigentümergemeinschaft nicht einfach eine Lademöglichkeit am Haus installieren." Weiterhin fordert Kagermann, das Förderprogramm für die Ladeinfrastruktur jetzt schnell umzusetzen, um Elektromobilität in der Fläche attraktiv zu machen. "Nicht zuletzt", so Kagermann weiter, "wäre es ein großer Anreiz, wenn die Kommunen die Möglichkeiten des Elektromobilitätsgesetzes nutzten, indem sie Elektrofahrzeugen beispielsweise kostenfreies Parken oder die Nutzung von Busspuren erlaubten."
Text: Jochen Reinecke