Schweden gilt als Musterland der Energiewende. Der Anteil der Erneuerbaren am Energieverbrauch liegt bei knapp 55 Prozent, während Deutschland nur auf 15,5 Prozent kommt. Fünf Jahre eher als EU-weit vorgesehen will Schweden komplett "fossilfritt" sein: Bis 2045 sollen die CO₂-Emissionen auf null gesenkt werden. Von der Stahlindustrie bis zur Flugbranche scheint die schwedische Wirtschaft geschlossen hinter den ambitionierten Zielen der Regierung zu stehen. Was machen die Schweden anders als der Rest der Welt? Und wenn das Land im Norden so mustergültig gegen den Klimawandel vorgeht – warum setzte sich Greta Thunberg trotzdem vor anderthalb Jahren mit einem Protestplakat vor den schwedischen Reichstag?
Schon 1991, als Thunberg noch lange nicht geboren war, führte Schweden eine CO₂-Steuer auf den Verkauf von Brenn- und Treibstoffen ein. Zunächst lag sie bei knapp 30 Euro pro Tonne CO₂, inzwischen sind es umgerechnet rund 110 Euro pro Tonne. Benzin im Tank, Heizen mit Öl – all das kostet in Schweden deutlich mehr als in anderen Ländern. Unternehmen, die dem globalen Wettbewerb unterworfen sind, mussten nach der Einführung zunächst weniger CO₂-Steuern zahlen. Viele dieser Ausnahmeregelungen wurden in den zurückliegenden Jahren abgebaut.
Schweden hat gezeigt, dass eine ambitionierte Energiewende-Politik Hand in Hand mit einem starken Wirtschaftswachstum gehen kann.
So haben es die Schweden in den vergangen drei Dekaden geschafft, die Schadstoffemissionen um mehr als ein Viertel zu reduzieren, während die Wirtschaft im gleichen Zeitraum um 80 Prozent wuchs. "Schweden hat gezeigt, dass eine ambitionierte Energiewende-Politik Hand in Hand mit einem starken Wirtschaftswachstum gehen kann", sagte Paul Simons, stellvertretender Direktor der Internationalen Energieagentur (IEA), bei der Vorstellung des schwedischen Länderreports im April 2019. Dennoch seien zusätzliche Anstrengungen nötig, konstatiert der Bericht, weil die CO₂-Emissionen des Landes seit 2013 stagnierten.
Jedes zweite Neufahrzeug ist ein E-Mobil
Vor allem der Transportsektor brauche besondere Aufmerksamkeit, da er für die Hälfte der energiebezogenen CO₂-Emissionen Schwedens verantwortlich sei, schreibt die IEA in ihrem Report. Der Anteil fossiler Kraftstoffe im Verkehrssektor liegt bei 83 Prozent. Das ist zwar der geringste Wert unter allen IEA-Mitgliedsländern, dennoch weit von der CO₂-Neutralität entfernt. Inzwischen ist zumindest jedes zweite Neufahrzeug ein E-Auto. Ab 2030 dürfen keine Neuwagen mit Verbrennungsmotor mehr verkauft werden.
Strom – ob fürs E-Mobil oder die Wärmepumpe im Heizungskeller – ist in Schweden sehr günstig. Dafür sorgen zwei Energiequellen, von denen eine in Deutschland nicht im gleichen Umfang genutzt werden kann und die andere nicht länger erwünscht ist: Wasserkraft und Atomkraft.
Knapp 40 Prozent des schwedischen Stroms kommen aus der Kernkraft. Und daran wird sich auch in absehbarer Zeit nicht viel ändern. Denn damit das Land bis 2045 CO₂-neutral wird, braucht es nach Ansicht vieler Schweden seine acht Kernreaktoren. Wenn Atomenergie auch nicht erneuerbar ist, so verursacht sie doch deutlich weniger Emissionen als fossile Energieträger. Tomas Tobé, der als Spitzenkandidat für die bürgerliche Partei "Moderaten" in den Europawahlkampf zog, überschrieb einen Gastkommentar mit der Headline: "Kernkraft ist klimasmart". Auch unter den Sozialdemokraten und Grünen gibt es viele Befürworter. 66 Prozent der Schweden sind pro Atomkraft, wie das öffentlich-rechtliche Fernsehen SVT vergangenes Jahr in einer Umfrage ermittelte.
Weiter mit Kernkraft - trotz Fukushima
Das war früher mal anders: 1980 – noch vor dem Reaktorunfall in Tschernobyl – hatten die Schweden per Volksabstimmung für den Ausstieg aus der Kernkraft bis 2010 gestimmt. Doch umgesetzt wurde der Beschluss nie, auch weil die liberal-bürgerliche Zentrumspartei nach der Jahrtausendwende von einer Gegnerin zur Befürworterin der Atomkraft wurde. 2010 hob das Parlament den Beschluss offiziell auf. Auch die Fukushima-Katastrophe im Folgejahr drehte die öffentliche Meinung nicht. Neue Kernkraftwerke werden zwar keine mehr gebaut, aber Vattenfall hat in den vergangenen Jahren Milliarden in die Erneuerung seiner Anlagen gesteckt. Zwei Reaktorblöcke des Kernkraftwerks Ringhals, 60 Kilometer südlich von Göteborg gelegen, sollten eigentlich bis 2020 vom Netz gehen. Doch die vier bürgerlichen Parteien setzen die rot-grüne Minderheitsregierung unter Druck, sie weiterlaufen zu lassen.
Auch wenn die Kernkraft auf absehbare Zeit wichtiger Stromlieferant bleibt, wollen die Schweden die Erneuerbaren Energien weiter ausbauen. Die Probleme mit der Windkraft ähneln indes denen in Deutschland: Die Flächen werden langsam knapp und die Netze müssen verstärkt werden, um den Strom aus dem windreichen Norden des Landes in den industriestarken Süden zu transportieren. In den vergangenen Jahren ist die installierte Leistung noch rapide gewachsen. Der Anteil an der Stromerzeugung liegt inzwischen bei elf Prozent. Doch der Oberste Gerichtshof Schwedens ist derzeit mit einem Grundsatzstreit beschäftigt, der den Ausbau der Windkraft bremsen könnte: Die Sami, die im Norden Skandinaviens Rentiere züchten, wehren sich gegen den Bau von Windkraftanlagen auf ihrem Land. Jetzt müssen die Richter klären, was Vorrang hat: die Rechte der indigenen Bevölkerung oder der Ausbau der Erneuerbaren Energien?
Windkraftgegner: Das Volk der Sami im Norden Schwedens. Foto: getty images
Die Energiewende als Business-Opportunity
Die schwedische Wirtschaft steht hinter der Energiewende. "Früher haben schwedische Unternehmen die Energiewende als Last betrachtet, von der sie einen Teil tragen müssten. Jetzt sehen sie die Energiewende als echte Business-Opportunity und eine Möglichkeit, neue Märkte zu erschließen", sagt Svante Axelsson, Koordinator der Regierungsinitiative "Fossilfreies Schweden". Die Initiative ermutigt alle Industriezweige, Roadmaps für ihren Weg in die fossilfreie Zeit zu entwickeln und der Politik zu sagen, welche Unterstützung sie dabei brauchen.
Die Stahlindustrie, eine der CO₂-intensivsten Branchen, will der eigenen Roadmap zufolge bis 2035 fossilfrei sein. Wasserstoff soll dabei helfen. Auch die Flugbranche hat einen Plan erarbeitet: Ab 2030 sollen alle Inlandsflüge ohne CO₂-Emissionen durchgeführt werden. Die internationalen Flüge ab Schweden sollen analog zu den nationalen Zielvorgaben spätestens 2045 fossilfrei sein.
Flugscham zwingt zu schnellerem Handeln
Die Schweden gehören zu den Vielfliegern. Die Entfernungen im Land sind groß, die Wege ans Mittelmeer oder zu anderen Urlaubszielen weit. Doch inzwischen schämen sich viele Schweden, wenn sie in den Flieger steigen, sie empfinden "Flygskam". Die Zahl der Inlandsflüge ging in den ersten acht Monaten 2019 um neun Prozent zurück. Einen Teil dazu beigetragen haben sicher die Klimastreiks, einen Teil auch die Flugsteuer, die die schwedische Regierung vor anderthalb Jahren eingeführt hat. Auf Inlandsflüge werden umgerechnet knapp sechs Euro aufgeschlagen, auf Auslandsflüge je nach Strecke bis zu 39 Euro.
Rickard Gustafson, Chef der schwedischen Airline SAS, im Interview mit n-tv: "Die Welt funktioniert nicht ohne eine gute Infrastruktur. Deswegen glaube ich auch nicht, dass die Flugscham der Luftfahrt wirklich schaden wird. Allerdings glaube ich schon, dass sie uns zwingt, noch aggressiver und schneller nachhaltige Alternativen auf den Weg zu bringen."
Biokraftstoffe sollen dabei helfen, den Flugverkehr emissionsfrei zu machen. Technisch ist das kein Problem, doch noch gibt es keinen funktionierenden Markt. Die Kraftstoffe sind nicht in den benötigten Mengen verfügbar. Wissenschaftlern von der Technischen Universität in Luleå zufolge könnte die schwedische Forstwirtschaft ausreichend Reststoffe für die Inlandsflüge liefern, ohne dass dafür zusätzliche Bäume gefällt werden müssten.
Schwedischer Trend: Geschäftsreise mit der Bahn. Foto: getty images
Öl aus Sägespänen? Bislang mangelt es an einem Produktionsverfahren, das im Industriemaßstab funktioniert. Die Setra Group, ein Sägewerksbetreiber, und das Mineralölunternehmen Preem Petroleum wollen bis 2021 eine Produktionsanlage bauen, in der jährlich rund 30.000 Tonnen Öl aus Sägespänen gewonnen werden sollen. Die Anlage wird in Gävle gebaut, zwei Autostunden nördlich von Stockholm. Auch andernorts im Land wird nach Wegen zur Herstellung von holzbasiertem Biokraftstoff gesucht.
Greta Thunberg und ihren Mitstreitern geht das alles nicht weit und nicht schnell genug. Die globale Klimakrise werde auch in ihrem Heimatland nicht mit der gebotenen Dringlichkeit bekämpft, kritisieren sie. Der Klimaschutz-Index CCPI bestätigt dies: Schweden führt zwar in dem globalen Ranking vor Marokko und Litauen, doch kein Land erhält die Note "sehr gut", weil kein Land genug unternehme, um einen gefährlichen Klimawandel zu vermeiden. Auch beim Klassenprimus Schweden ist also noch Luft nach oben.
Text: Ulrike Wronski
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"Wo passiert was?" - Die Regierungsinitative "Fossilfreies Schweden" hat die bislang eingereichten Roadmaps von 13 Branchen in einem Report zusammengefasst. ZUM BERICHT (ENGLISCH)