Streitfragen im Gespräch über die Digitalisierung der Energiebranche mit den Experten Dominik Spannheimer und Dr. Thilo Weichert:
Streitfragen: Meine Herren, hat die Energiebranche insgesamt begriffen, was in Sachen Digitalisierung auf sie zukommt? Ist allen bewusst, dass man es da bald mit ganz neuen Playern am Markt zu tun haben dürfte und mit veränderten Verbraucherbedürfnissen?
Dominik Spannheimer: Man muss das differenziert sehen. Die Digitalisierung läuft in der Energiebranche nicht synchron. Im Energiemarkt, wo es um die Beziehung zwischen Verbraucher und Erzeuger geht, bestimmt weiterhin das schwächste Glied in der Kette das Niveau der Digitalisierung. Da gibt es deshalb auch durchaus noch einigen Spielraum nach oben. Im Bereich der Systemführung dagegen sind Big Data, Automation, Digitalisierung längst Realität.
Streitfragen: Das heißt, bei den Mitbewerbern sind IT-Themen auch so hoch in der Hierarchie aufgestellt?
Spannheimer: Ich räume ein, dass meinem Arbeitgeber 50Hertz mit der Position des CIO ein gewisses Alleinstellungsmerkmal zusteht.
Dr. Thilo Weichert: Womit ja schon fast bewiesen wäre, dass es bei der Industrie Nachholbedarf gibt, Herr Spannheimer. Ich fürchte ganz grundsätzlich, dass es bei einer ganzen Reihe von Themen erhebliche Lücken im Bewusstsein gibt: IT-Sicherheit, Datenschutz, selbst bei den kommerziellen Marktgefahren, die durch Digitalisierung entstehen. Es ist vielen in der Industrie nicht bewusst, was da alles kommt.
Streitfragen: Klingt ein bisschen so, als müssten wir die Digitalisierung in der Energiebranche dringend verhindern.
Weichert: Nein, um Gottes Willen, verstehen Sie mich nicht falsch. Die Digitalisierung bietet unbestreitbar große Chancen für die Energiewirtschaft. Automation, Produktivitätsgewinne, Energieersparnis, überhaupt das fein justierte Auspegeln von Angebot und Nachfrage und die dezentrale Einspeisung – das alles ist ohne Digitalisierung ja gar nicht denkbar. Aber die Chancen für die Industrie sind oft auch das Risiko für die Bürger. Es werden sehr viele Daten über das Verhalten der Verbraucher gesammelt werden. In anderen Branchen haben wir erlebt, dass solche Daten irgendwann für andere Zwecke genutzt, wenn nicht sogar missbraucht werden – und zwar oft genug durch Marktteilnehmer, die von außen in den Markt gekommen sind.
Spannheimer: Lassen Sie uns aber doch bitte erst einmal angucken, wie sich die Branche zukünftig aufstellt. Da wird ja viel passieren. Im Transport, im Energiehandel und in der Verteilung ist die Dezentralisierung ein Riesenfaktor für die digitale Entwicklung – und zwar in beide Richtungen. Einmal von "oben" bis hin zum Einzelnen, das heißt durch digitale Steuerung bis hinein ins Eigenheim und ins Lastenmanagement. Aber genauso auch in die andere Richtung, vom Verbraucher in die Netze. Davon völlig unbenommen werden vermehrt dezentrale Einheiten an den Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) angeschlossen und durch die Systemsteuerung zentral gesteuert. Da geht es um immer komplexere Systeme, die ohnehin nur noch digital steuerbar sind. Das sind Anlagen, in die man lokal investieren muss. Das ist deshalb auch ein ganz lokales Geschäft. Im Bereich Verteilung und Transport wird es neue Chancen und Möglichkeiten hinsichtlich Echtzeitüberwachung und -messung von Anlagen geben, um präventive Maßnahmen möglich zu machen, oder beim Forecasting für bessere Vorhersageanalysen. Aber Infrastruktur?
Weichert: Ich wäre mir da nicht so sicher. Man hat das in anderen Branchen gesehen. Da wird es nicht mehr um die verkaufte Energieleistung gehen, sondern um Energie als Zusatzangebot. Das geht ganz schnell.
Spannheimer: Je komplexer es bei Verteilung und Last wird, je höher die Investitionen in lokale Hardware ausfallen müssen, umso schwieriger sind Teile des Gesamtsystems von außerhalb zu beherrschen. Da sind Markteintritte von Google und Co eher unwahrscheinlich. Da bleibe ich dabei.
Streitfragen: Weil wir gerade über Investitionen reden: Die Energiewirtschaft will ein eigenes E-Informationsnetz aufbauen. Ist das ein sinnvoller Plan?
Spannheimer: Ja, sicher. Wir werden in Zukunft eine Fülle von intelligenten Messgeräten im Netz verteilt haben und stärker ins Lastmanagement gehen müssen. Das ist eine Notwendigkeit, da liegen Marktchancen. So etwas ist mit der heutigen Technik im Niederspannungsbereich gar nicht machbar. Deshalb brauchen wir ein eigenes Energie-Netzwerk, in dem wir Fernwirktechnik, Systemtechnik, Energie-Versorgung und Telekommunikation bündeln – alles natürlich immer verbunden mit höchster IT-Sicherheit. Das ist im ISMS ( dem Managementsystem für Informationssicherheit, die Redaktion ) im Übrigen auch schon so gefordert.
Streitfragen: Pardon, aber zeigen nicht die Erfahrungen mit dem Netzwerk Herkules bei der Bundeswehr oder BOSS, das Netz der Sicherheitsbehörden, dass große, staatliche Digitalprojekte nicht effizient sind?
Weichert: Es hat solche staatlichen Fehlplanungen gegeben, gar keine Frage. Aber zum Glück müssen wir für das Energieinformationsnetz ja nicht alles neu erfinden. Wir können die physische Struktur des Datennetzes nutzen, wenn wir sie gründlich genug entkoppeln von der offenen Netzstruktur des Internets. Ich halte es dabei für absolut unabdingbar, dass wir dieses Energie-Netz vom Internet komplett abgeschotten und absichern. Angriffe, wie wir sie vom offenen Netz kennen, wären für die Energieversorgung viel zu gefährlich. Da geht es nicht mehr um Hacking und Datenklau, da geht es gleich um Sabotage. „Es wird nie hundertprozentige Sicherheit geben, sondern nur notwendige Resilienzgrade.“ Dominik Spannheimer, Chief Information Officer, 50Hertz Transmission GmbH
Spannheimer: Da haben Sie Recht, Herr Weichert – die Risiken wären enorm. Zugleich glaube ich aber kaum, dass wir die technische Entwicklung, die klar in Richtung Internet geht, hier aufhalten können. Wir werden ganz sicher auch das Internet als eines der Netzwerke der Energiewirtschaft nutzen müssen. Aber in der Tat wird es darauf ankommen, ein „Netz der Energie“ sehr stark vom Internet abzuschotten. Was uns letztendlich beschäftigen wird, ist die Frage der Abgrenzung. Mal angenommen, der Verbraucher ist mit einem intelligenten Strommessgerät unterwegs, das Informationen an das Energienetz liefert und gleichzeitig Informationen dort zieht. Dann darf er nur bis zu einem klar definierten Punkt kommen, nicht weiter. Die andere Richtung ist nicht so problematisch.
Weichert: Sagen Sie. Auch ganz unten gibt es Grenzen. Es darf nicht so weit gehen, dass man in den Privatbereich eindringt. Ich habe ja kein Problem damit, wenn aggregierte, anonymisierte Daten aufgenommen werden. Aber bis auf die Haushaltsebene oder gar bis auf die Geräteebene zuzugreifen, das ist völlig undenkbar. Und es ist nicht nachhaltig. Wenn hier nicht gegengesteuert wird, wenn wir nicht die technische Sicherheit schaffen, dann wird das zu größeren Ausfällen führen. Auch normativ. Wir brauchen abgeschottete Netze und Schnittstellen, die gut überwacht und kontrolliert werden.
Spannheimer: Da liegen wir gar nicht so weit auseinander. Wir müssen nur unterscheiden: Geht es um Kilowatt oder Kilowattstunde? Das Kilowatt brauchen wir, damit die Netze stabil bleiben. Da muss es auch in Zukunft eine übergeordnete Instanz geben, die die verschiedenen Lieferanten, die Aggregatoren beliefern und überwachen kann. Veranschaulichen kann man das gut am Beispiel Lastmanagement. Wird zu viel Strom ins Netz eingespeist, zum Beispiel durch eine Starkwindfront, kann das Netz instabil werden. Dezentral lässt sich so ein Problem nicht lösen. Bei der Betrachtung der Kilowattstunde, also im wettbewerblichen Bereich, auf der Ebene der Stadtwerke und Messstellendienstleister, da wird man sich viel breiter aufstellen müssen – oder vom Markt verschwinden.
Streitfragen: Sind das dann diejenigen, die mit den von Herrn Dr. Weichert genannten Daten ihr Geld verdienen werden?
Spannheimer: Am Ende sind heute viele Firmen überfordert, mit ihren Daten überhaupt etwas anzufangen. Da wird man noch viel Wissen aufbauen müssen. Wir selbst bei 50 Hertz leben Big Data schon in der Systemsteuerung. Aber wie man da auf Verbraucherseite einen Business Case aus den transparenten Daten machen soll, ist nicht unser Thema als ÜNB. Das Endkunden- und Handelsgeschäft sieht anders aus als unseres.
Weichert: Ich wäre mir da nicht so sicher, dass Big Data-Instrumente schwer handhabbar sind. Für kleine und mittelständische Unternehmer wird es sehr bald möglich sein, Daten zu nutzen und auszuwerten. Wir müssen aber das, was im Internet passiert ist, also die völlige Anarchie und hundertprozentige Verletzung der Privatsphäre, im Energiebereich verhindern. Da werden wir regulatorisch gegenhalten müssen. Da wird einiges auf uns zukommen, spätestens dann, wenn Geräte stärker ihre eigene digitale Identität entwickeln wie bei Smart Home und Smart City. Da wird es bis in den intimsten Lebensbereich gehen.
Spannheimer: Ich halte es für schwierig, den Endverbraucher zu sensibilisieren, dass seine Daten schützenswert sind. Abgesehen von der ein oder anderen Klage gegen Facebook sind die Menschen doch augenscheinlich gern bereit, etwas von ihren Daten preiszugeben. Das Nutzerbewusstsein ist da noch entwicklungsfähig.
Weichert: Die Gesetzgeber beziehungsweise die Gerichte sind in der Pflicht, das sehe ich auch so. Doch die Politik hält sich hier bislang vornehm zurück. Ich glaube aber, dass wir gerade den Anfang eines Prozesses erleben, in dem die Regulierung sich von den Erwartungen mancher Marktapologeten emanzipiert. Selbst Google und Facebook kommen unter regulatorischen Druck.
Spannheimer: Ich glaube eher, dass die Diskussion sich gerade dreht. Erst ging es um Technik, um gewisse Standards, um IP für alle bis hin zum Smart Meter. Jetzt beginnt man zu überlegen, wie sieht der Prozess aus, wie die gesetzlichen Rahmenbedingungen? Es ist sicher so, dass hier der zweite vor dem ersten Schritt gemacht wird. Aber immerhin. „Seine Kaffeemaschine fünf Minuten vorzuglühen – das ist nicht besonders sexy.“ Dr. Thilo Weichert, Jurist und Datenschutzbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein
Weichert: Das kennen wir aus anderen Lebensbereichen, dass es eine Ungleichzeitigkeit der tatsächlichen Entwicklung und dem politischen Reagieren gibt. Gucken Sie sich das neue IT-Sicherheitsgesetz an. Eine große Weiterentwicklung stellt das nicht dar.
Streitfragen: Woran fehlt es denn nun – an öffentlichem Interesse oder an politischer Regulierung?
Spannheimer: Betrachtet man die Energiewirtschaft als Ganzes, dann ist festzustellen, dass viele sich nicht bewusst darüber sind, was da auf sie zukommt. Sie sehen weder, welche Folgen eine Umwälzung der Technik haben noch woher diese kommen könnte.
Streitfragen: Revolutionen finden eher in Nischen statt. Das ist doch nicht bedrohlich.
Spannheimer: Das Prinzip der disruptiven Technik ist ja so: Ein kleines Unternehmen probiert eine neue Technik in einer kleinen Nische aus und weitet diese Nische dann mehr und mehr aus. Wenn man da nicht mitspielt oder das nicht mitbekommt, dann ist man ganz schnell nicht mehr an der Stelle, wo man von der Marktrolle her hin gehört. Das ist wie damals, als die Glühbirne die Kerzen überholt hat.
Weichert: Aber da geht es wiederum nicht nur um die Ökonomie und um Marktrollen. Gesellschaftlich gesehen kann es durch den unregulierten, unkontrollierten Einsatz disruptiver Technologien nicht nur kleine Defekte gehen, sondern Systemabstürze mit gewaltigen Folgen. Das kann bis hin zum Totalausfall von Energie und sonstiger Grundversorgung wie Abfall- und Wasserwirtschaft reichen. Die Technik kann uns auch zurück ins Mittelalter schießen. Darüber sollte man sich klar sein.
Spannheimer: Wir beobachten alle neuen Technologien dort, wo sie auftauchen, und ganz genau. Wie passen diese Technologien zu uns, zu unserem System? Was können wir lernen, was übernehmen? Wie steht es mit Safety, Security, Privacy. Das ist unser Mantra.
Streitfragen: Aber wird Regulierung etwas nützen, wenn der Verbraucher seine Daten einfach freigibt, weil er sich damit einen Vorteil erkauft? Oder weil es dann irgendwann zum guten Lifestyle gehört, seinen Kühlschrank vom Energieversorger steuern zu lassen?
Weichert: Im Moment ist das noch nicht abzuschätzen, weil die Entwicklung von Apps und Smart Meter nicht so weit fortgeschritten ist und deshalb die Attraktion für den Endverbraucher fehlt. Seine Kaffeemaschine fünf Minuten vorglühen zu lassen, bevor man nach Hause kommt, oder vom Büro aus schon mal die Heizung hoch drehen: Das sind Dinge, die sind mit Verlaub nicht besonders sexy. Aber das kann sich natürlich in kürzester Zeit ändern, wenn es Anwendungen gibt, die das Leben wirklich leichter machen. Dafür bedarf es einer regulatorischen Vorbereitung, damit diese Technologie auch mit datenschutzfreundlichen Techniken umgesetzt wird. Leider gibt es dafür allerdings nicht das Bewusstsein in der Politik, und zum Teil auch nicht beim Endverbraucher. Ein riesiges Problem ist zudem, dass die behördliche Seite katastrophal ausgestattet ist.
Spannheimer: Ich denke auch, dass es irgendwann Mittel und Wege geben wird, entsprechende Applikationen cool zu machen. Diese werden sich dann auch verbreiten. Das wird man nicht verhindern können. Aber was verhindert werden kann und muss, ist Sabotage – also die Möglichkeit, über solche Applikationen in die Netze einzudringen. Im vermaschten Netz werden sich die Risiken exponentiell vermehren. Und es gibt da nicht die Option, erst after event oder post mortem zu reagieren.
Streitfragen:
Sind wir denn für solch einen Ernstfall aufgestellt?
Spannheimer: Nein, was die neuen noch nicht eingesetzten Techniken auf IP-Basis angeht, ist die Branche davon entfernt. Und selbst wenn wir schon viel weiter wären: Es wird nie hundertprozentige Sicherheit geben, sondern nur notwendige, erreichbare Resilienzgrade, Härtungsgrade und Stabilitätsgrade. Wenn ein kleines System ausfällt, muss einfach sichergestellt werden, dass der Rest weiterläuft. Wenn größere Systeme ausfallen, muss die Fähigkeit zum Schwarzstart vorgehalten werden. Und jeder wird damit rechnen müssen, dass das System bei der Nutzung von neuen IP-Techniken insgesamt lokal weniger stabil wird.
Weichert: Genau das diskutieren die Energieunternehmen aber doch viel zu wenig. Man kann das ja auch verstehen – das ist noch zu weit vom täglichen Geschäft entfernt. Aus regulatorischer Sicht aber bräuchten wir diese Diskussion jetzt ganz dringend. Aber erst wenn die Branche darüber redet, was die Digitalisierung für Folgen haben wird, positive wie negative, kann man das Thema auch der Politik und den Konsumenten und den Medien vermitteln.
Spannheimer: Wobei wir nicht glauben sollten, dass wir viel Zeit haben. Die Innovationen werden auch von Externen kommen, ohne große Vorwarnung. Und dann werden wir der Evolutions- und Innovationsgeschwindigkeit nichts entgegensetzen können. Die Standards müssen dann schon da sein.
Weichert: Und um das anzudrehen, da ist der gefordert, der am besten Bescheid weiß: die Industrie.
Streitfragen: Wir danken Ihnen für das Gespräch.