Gastbeitrag von Prof. Dr. André Reichel
Bis vor wenigen Jahren sah es danach aus, als ob ein "Peak Carbon" erreicht wäre, also ein Verharren der CO₂-Emissionen trotz des weiteren Wachstums der Weltwirtschaft, verbunden mit der Hoffnung auf ein baldiges Absinken in den folgenden Jahren. Mittlerweile wissen wir aber, dass dies nur ein vorübergehender Stillstand war. Die Emissionen steigen wieder, der Zusammenhang mit dem Wirtschaftswachstum bleibt unentkoppelt.
Der Zwiespalt zwischen Wachstum und Nachhaltigkeit wird deutlich, wenn man sich die ökologischen Fußabdrücke der Länder anschaut, die nach dem Ranking der Erfüllung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen die ersten Plätze einnehmen. Da sieht man die skandinavischen Staaten vorne, aber auch Deutschland ist in der Spitzengruppe. Gleichzeitig weisen alle diese "nachhaltigen" Länder einen ökologischen Fußabdruck auf, der um den Faktor drei über einem tatsächlich nachhaltigen Maß liegt. Dies ist umso bedenklicher, da diese Länder häufig als Vorbilder in Sachen Nachhaltigkeit gelten, denen andere Länder nachstreben. Es ist eine unangenehme Erkenntnis, dass wir nach beinahe 50 Jahren des globalen Umweltdiskurses kein alternatives wirtschaftliches Entwicklungsmodell haben, welches Wohlstand und ökologische Nachhaltigkeit vereinen kann.
BLINDHEITEN DES WACHSTUMSBEGRIFFS
Wenn hier über Wachstum gesprochen wird, dann ist damit natürlich in erster Linie das langfristige Anwachsen von Angebot und Nachfrage in einer Volkswirtschaft gemeint – ausgedrückt mittels der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung im Bruttoinlandsprodukt. Diese Berechnungsmethode ist natur- und sozialblind, sie fokussiert einseitig auf Güter und Dienstleistungen, die auf Märkten zu entsprechenden Marktpreisen gehandelt werden. Externalitäten, also zum Beispiel negative ökologische Effekte durch das Wirtschaften, werden ignoriert. Ebenso sind Leistungen der informellen Wirtschaft, also zum Beispiel Leistungen der Haushalte in Heim-, Erziehungs-, Pflege- und Nachbarschaftsarbeit, nicht berücksichtigt. Werden diese Blindheiten des Wachstumsbegriffs beseitigt, kann vielleicht diese harte Eingangsthese – Wachstum oder Nachhaltigkeit – entschärft werden. Dies verlangt aber eine radikale Neudefinition von Wachstum und ein Neudenken, was eigentlich wirtschaftlichen Erfolg ausmacht. Damit sind wir auf der Ebene der Unternehmen angelangt.
Für das langfristige Wohlergehen und die Überlebensfähigkeit von Unternehmen ist die Erhaltung von Naturkapital und sozialem Kapital genauso wichtig wie die Erhaltung ökonomischen Kapitals.
Hier setzt die Studie "Next Growth: Wachstum neu denken" an, die ich gemeinsam mit dem Zukunftsinstitut von Matthias Horx herausgegeben habe. Darin wird Wachstum als Teil eines schöpferischen Aufbau- und Zerstörungsprozesses gesehen, bei dem Qualitäten wie zum Beispiel die Frage nach dem Sinn wirtschaftlicher Tätigkeiten im Vordergrund stehen. Das "Nächste" an Next Growth ist dabei die Erweiterung des engen Wertbegriffs von wirtschaftlichen Faktoren auf ökologische und soziale Faktoren, also von Wertschöpfung zur Werte-Schöpfung. Für das langfristige Wohlergehen und die Überlebensfähigkeit von Unternehmen ist die Erhaltung von Naturkapital und sozialem Kapital genauso wichtig wie die Erhaltung ökonomischen Kapitals. Mehr noch: Das ökonomische Kapital wird in dieser Perspektive in den Dienst gestellt, Naturkapital und soziales Kapital zu erhalten und zu mehren. Wachstum findet dann primär in diesen Bereichen statt. Das Natural Capital Accounting – also das Bilanzieren des Naturkapitals – kann hierbei Ansätze liefern.
ZWEI NEUE PERSPEKTIVEN
Für die strategische Ausrichtung von Unternehmen öffnen sich damit zwei neue Perspektiven: die der Konsistenz und die der Suffizienz. Mit Konsistenz ist die Orientierung wirtschaftlichen Handelns an natürlichen Ökosystemen und ihren Logiken der kontinuierlichen Erneuerung gemeint. Ökonomische Konzepte wie "Zero Waste" oder die Kreislaufwirtschaft gehören dazu, ebenso die Substitution erschöpflicher durch erneuerbare Ressourcen. Durch diese strategische Orientierung rückt die Erhaltung von Naturkapital in den Vordergrund, ökonomische Ressourcen werden in dessen Dienst gestellt.
Mit Suffizienz ist die Entrümpelung von Lebensstilen gemeint, und welchen Beitrag Unternehmen dazu leisten können. Verlängerung von Produktlebenszyklen, reparatur- und upgradefähige Produkte, aber auch das Tauschen und Teilen von Produkten gehören zu dieser Strategie. Suffizienz als strategische Orientierung bezieht Kunden und ihr Verhalten mit ein, baut also auf der Erhaltung von Sozialkapital auf und erzwingt eine viel engere Beziehung zwischen Unternehmen und Kunden. Suffizienz und Konsistenz sind dabei nicht strikt getrennt, sondern gehen auf einem Wertstoffkontinuum ineinander über.
In manchen Feldern, zum Beispiel der Elektromobilität, gehören sie untrennbar zusammen. So erzwingt die materielle Basis der Elektromobilität, in erster Linie die Lithium-Batterie als deren Grundlage, eine 100-prozentige Kreislaufwirtschaft, da wir sonst in große ökologische Probleme in den Lieferketten geraten; gleichzeitig stößt man auch schnell an eine ökologische Obergrenze, was den Energieaufwand des Batterierecyclings betrifft, sollten alle Verbrennungsmotoren zum Beispiel in Deutschland durch Batterien ersetzt werden. Christian Hagelüken von Umicore, dem größten Batterierecycler Europas, hat es so ausgedrückt: Die Elektromobilität brauche die Kreislaufwirtschaft und diese wiederum die Sharing Economy bei der Automobilität. Mit anderen Worten: Ohne Suffizienz bei der Nutzung nützt die Konsistenz bei Produktion und Reproduktion nichts.
ZUM WOHLE DES PLANETEN
Nimmt man nun diese neuen strategischen Perspektiven von Konsistenz und Suffizienz zusammen und stellt auf deren Natur- wie Sozialkapital erhaltenden Wirkungen ab, eröffnen sich neue Perspektiven für Wachstum durch wirtschaftliches Handeln. So ein Next Growth ist sicherlich nicht einfach zu erreichen und verlangt von Unternehmen zunächst einmal die Selbstaufklärung, was Wachstum eigentlich bedeutet. Dabei wird schnell sichtbar werden, dass wir es hier mit einer "mentalen Infrastruktur" (Harald Welzer) zu tun haben, die unternehmerisches Handeln auch einengt. Erst wenn die impliziten Annahmen über Wachstum deutlich gemacht werden, wenn klar wird, was alles schrumpfen muss und vermindert wird, damit die ökonomische Wertschöpfung steigt, dann können die größeren Problemlösungen in den Blick genommen werden. Die zentrale Frage, die ein Unternehmen dann im Next Growth für sich beantworten muss, ist diese: Was kann dein Unternehmen zum Wohle des Planeten und seiner Menschen tun? Alles andere, alles "wirtschaftliche", wird dann Mittel zum Zweck der ökologischen und sozialen Werte-Schöpfung.
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André Reichel (Herausgeber): Next Growth: Wachstum neu denken. 2018. ZUR STUDIE