Dieses Round-Table-Gespräch fand, bedingt durch die Corona-Pandemie, in einem besonderen Rahmen statt: Unter Wahrung des Sicherheitsabstands fanden sich im April 2020 Kerstin Andreae, Snezana Michaelis und der Moderator Jochen Reinecke in der Berliner BDEW-Geschäftsstelle ein. Dr. Frank Meyer und Thomas Ulbrich waren per Videokonferenz zugeschaltet. Ein Analog-Digital-Gespräch in Zeiten des Umbruchs.
Die Covid-19-Pandemie ist ein Musterbeispiel für ein "Black Swan Event" – eine disruptive Entwicklung, mit der fast niemand gerechnet hat. Was hat uns die Corona-Krise bisher lehren können?
KERSTIN ANDREAE: Wir erleben jetzt, welche Möglichkeiten die Digitalisierung bietet. Auf der anderen Seite lehrt uns die Situation aber auch, welche Bedeutung die persönliche Präsenz hat. Das Arbeiten aus dem Homeoffice und per Videokonferenz ist sehr effektiv, aber es fehlen mir hier und da schon die Zwischentöne. Mein zweites Learning ist: Ich bin positiv überrascht, wie gut wir alle zusammenhalten. Das sehe ich im privaten Umfeld, hier im Verband, in der Energiebranche und auch in der Gesellschaft insgesamt.
SNEZANA MICHAELIS: Wir lernen gerade viel über Prozesse, Abläufe und Notwendigkeiten. Bestimmte gelernte Arbeitsweisen stellen sich als verzichtbar heraus – ich glaube, dass wir auch über die Krise hinaus hinterfragen werden, was wir im operativen Tagesgeschäft wirklich langfristig brauchen und was nicht. Die andere Seite der Medaille: Unsere Hauptaufgabe als Wohnungsbauunternehmen ist es ja eigentlich, Begegnungen zu ermöglichen. Jetzt gerade tun wir das Gegenteil: Wir verhindern Begegnungen. Dabei zeigt sich, dass Vertrauen eine ganz wichtige Währung ist – Vertrauen gegenüber Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Kundinnen und Kunden, aber auch gegenüber anderen Stakeholdern.
THOMAS ULBRICH: Eines ist sicher: Die Krise wird unsere Arbeitswelt langfristig verändern – natürlich in erster Linie über die Digitalisierung der Arbeitsabläufe. Was ich derzeit als außerordentlich positiv erachte, ist die gegenseitige Rücksichtnahme und auch der Zusammenhalt, den wir jetzt überall spüren. Ich sehe bei Volkswagen, wie sich unsere weltweiten Standorte gegenseitig unterstützen und Best-Practice-Erfahrungen im Umgang mit Corona austauschen. Die ersten, die bei uns angerufen haben, ob wir Schutzmasken brauchen, waren die Kollegen aus China. Es gibt gerade viele kleine und große Zeichen der Solidarität, das stimmt mich sehr froh.
Der Klimawandel ist nichts anderes als eine langsam ablaufende Krise. Wir sehen jetzt, dass man auf so eine Krise durchaus reagieren kann. Frank Meyer, E.ON
FRANK MEYER: Covid-19 zeigt uns vor allem, wie leicht man Krisen unterschätzen kann. Und letztlich ist der Klimawandel auch nichts anderes als eine globale Krise – die sich zwar noch langsamer abspielt als die aktuelle Pandemie, aber enormen Schaden anrichtet und vor niemandem Halt macht. Und auf der anderen Seite sehen wir, dass es durchaus möglich ist, auf so eine Krise schnell zu reagieren und unser Verhalten, unsere Lebens- und Arbeitsweisen umzustellen.
Brauchen wir manchmal Stress von außen, um notwendige Veränderungen voranzutreiben?
ANDREAE: Wenn man sich die großen, disruptiven Veränderungen unserer Wirtschaft ansieht, dann waren diese häufig durch Stress von außen verursacht. Die letzte große relevante Diskussion im Energiebereich betraf den Atomausstieg – und der ist letztlich durch Fukushima gekommen. Aber externer Stress sorgt ja nicht nur für Akutreaktionen. Ich glaube, dass uns die letzten Monate auch ein Stück weit ins Nachdenken gebracht haben über die Art, wie wir eigentlich leben wollen. Und ich kann mir vorstellen, dass dieses Nachdenken – in die richtigen Bahnen gelenkt – uns auch in Bezug auf die Energiewende voranbringt.
Was macht das mit einem Automobilhersteller, also mit einem Industrieunternehmen, wo nicht jeder einfach ins Homeoffice geschickt werden kann?
ULBRICH: Im reinen Produktionsbereich, wo wirklich noch mit der Hand am Blech gearbeitet wird, zwingen uns allein schon die aktuellen Vorgaben zu notwendigen Anpassungen: Lassen sich Arbeitsplätze rund ums Auto so weit auseinanderziehen, dass wir die 1,5 Meter Abstand wahren und trotzdem die Wertschöpfungsketten beibehalten? Wo können wir stärker automatisieren als bisher? Im nicht taktgebundenen Entwicklungsbereich ist das naturgemäß einfacher: In den Büros und Pilothallen konnten und können wir schnell reagieren – und ich bin davon überzeugt, dass wir vieles von dem Gelernten nach der Krise auch beibehalten werden.
Haben Kooperationen einen neuen Stellenwert bekommen?
MEYER: Definitiv. Das war in der Energiebranche schon vor Corona so, doch die aktuelle Situation wirkt da noch mal wie ein Brennglas. Wir müssen uns voll aufeinander verlassen können. Das fängt bei unseren IT-Dienstleistern an, mit denen wir innerhalb einer Woche eine neue IT-Infrastruktur sicherstellen mussten, um 100 Prozent der Mitarbeiter im Homeoffice arbeitsfähig zu machen. Das geht weiter mit unseren Vertriebspartnern im Lösungsgeschäft, den Handwerksunternehmen im Heizungs- und Photovoltaikbereich – und nicht zuletzt mit den Banken. Es gibt unzählige Kooperationen, die vielleicht per se gar nicht so neu sind, aber in ihrem Gewicht und im gegenseitigen Vertrauen zueinander gerade erheblich an Wert gewinnen. Es geht ja nicht nur darum, die Auswirkungen der aktuellen Pandemie zu bekämpfen, sondern auch darüber nachzudenken, wie eine Zukunft danach aussehen kann und wie wir wieder in ein Wirtschaftswachstum kommen.
ULBRICH: Kooperationen sind ein echter Lösungsweg – und dies gilt heute mehr denn je! Wir Autobauer sind Kooperation gewohnt: So betreiben wir unser internationales Joint Venture für Ladeinfrastruktur IONITY gemeinsam mit unseren Wettbewerbern Mercedes, Ford und BMW. Neu sind für uns jedoch zunehmend branchenübergreifende Kooperationen, etwa mit Softwarefirmen wie Microsoft oder Google oder mit E.ON und unserer mobilen Ladesäule. Wir gestalten gemeinsam die Zukunft – und damit das Automobil von morgen. Eine solche Zusammenarbeit erfordert immer viel Offenheit und inhaltlichen Austausch über die unterschiedlichen Geschäftsmodelle, bietet aber gleichzeitig auch gewaltige Chancen.
Wir sehen uns in der Pflicht, unsere Sozialpartnerschaften und Sponsorings aufrechtzuerhalten. Das ist wie eine Ehe. Man ist in guten Zeiten Partner, aber in schlechten eben auch. Snezana Michaelis, Gewobag
MICHAELIS: Die Wohnungswirtschaft hat ein vergleichsweise resilientes Geschäftsmodell, frei nach dem Motto "Gewohnt wird immer". Als kommunales Wohnungsbauunternehmen sind wir darüber hinaus aber mit einem besonderen sozialen Auftrag ausgestattet. Der geht ja in einer solchen Situation nicht verloren, sondern das Gegenteil ist der Fall. Wir sehen uns in der Pflicht, unsere Sozialpartnerschaften und Sponsorings aufrechtzuerhalten. Das ist wie eine Ehe. Man ist in guten Zeiten Partner, aber in schlechten eben auch. Doch auch jenseits der aktuellen Situation sehe ich großen Bedarf für Kooperationen, gerade in Bezug auf unsere Energieziele. Wenn es beispielsweise um Ladeinfrastruktur und Sektorkopplung geht, kann die Wohnungswirtschaft ein attraktives Bindeglied zwischen der Mobilitäts- und der Energiebranche darstellen. Doch oft genug fehlt es allen Beteiligten noch am "Think Big", an der Bereitschaft, sich über die eigenen Ressortgrenzen hinweg zusammenzusetzen und sich gemeinsam für ein höheres Ziel einzusetzen.
ANDREAE: Als ich im November 2019 beim BDEW angefangen habe, habe ich mir von Anfang an das Ziel gesetzt, dass wir über die Branchen hinweg stärker zusammenarbeiten, um die Energiewende voranzutreiben. So haben wir zusammen mit Herrn Ulbrich relativ kurzfristig eine Kooperation gestartet, bei der das Miteinander von Ladeinfrastruktur und Elektromobilität Priorität hat. Wir haben aber auch überlegt, wie wir die Industrie bei ihrem Streben nach Dekarbonisierung unterstützen können. Es geht jetzt weniger um das, was uns trennt, sondern um das, was wir gemeinsam erreichen können. Dafür hat sich in dieser Krise ein reelles Zeitfenster aufgetan. Jetzt können wir Bremsen lösen und Steine aus dem Weg rollen.
Welche Steine liegen im Weg, welche Bremsen müssen gelöst werden?
MICHAELIS: Der Gebäudesektor hat einen relativ großen Rucksack zu tragen im Hinblick auf die energetische Sanierung von Gebäuden. Es ist schwer, im Dilemma zwischen Investitionen, Refinanzierung über Miete und der gleichzeitigen Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl die dringend nötige Sektorkopplung voranzutreiben. Derzeit sehe ich eine große Fokussierung auf das Thema Elektromobilität und Elektrifizierung als Ganzes. Ich glaube aber, dass wir gut beraten sind, nicht ausschließlich auf eine Technologie zu setzen – ich spreche hier beispielsweise die Problematik des Recyclings oder der seltenen Erden an. Wir müssen meines Erachtens parallel noch mehr in technologieoffene Forschung und Entwicklung von Technologien investieren.
Das Auto gehört nun mal dem Kunden, nicht Volkswagen und auch nicht den Energieversorgern. Thomas Ulbrich, Volkswagen
ULBRICH: Mit Blick auf die Pariser Klimaziele werden allein 2030 etwa sieben bis zehn Millionen Elektrofahrzeuge auf den Straßen fahren, mit einem Strombedarf von 15 bis 20 Terawattstunden pro Jahr. Wenn wir umweltfreundliche Elektromobilität wollen, brauchen wir neben grünem Strom dazu vor allem performante Speichersysteme – und das Auto als Zwischenspeicher ist dafür eine reelle Option. Pufferspeicher sind der "Missing Link" für die Energiewende. Hier liegt das eigentliche Gold vergraben. Die Stromwirtschaft kann sich hier einen neuen Milliardenmarkt erschließen und Geschäft übernehmen, das bislang die Mineralölkonzerne gemacht haben. Doch das Auto gehört nun mal dem Kunden, nicht Volkswagen und auch nicht den Energieversorgern. Wir müssen ihm deshalb schmackhaft machen, sein Fahrzeug als Zwischenspeicher zur Verfügung zu stellen. Und dafür sollte die Politik die notwendigen Rahmenbedingungen und Anreize schaffen.
Die Politik hat alles auf den Verhandlungstisch gelegt - und keine Seite bewegt sich. Kerstin Andreae, BDEW
ANDREAE: Eine große Bremse sehe ich in der Bürokratie: Ich habe mich im vergangenen Jahr mit Förderprogrammen für den Heizungstausch beschäftigt. Die Anträge, die Sie da ausfüllen müssen, sind außerordentlich komplex. Es gibt eigentlich ausreichend Förderprogramme, das Geld ist nicht das Problem. Das Problem sind zum einen die Handwerker, die gerade an vielen Stellen fehlen – und eben das bürokratische Antragswesen. Weitere Bremsen sind der schleppende Netzausbau sowie die Diskussion um die Abstandsregeln bei Windenergieanlagen und der PV-Deckel bei der Solarenergie. Die Politik hat alles auf den Verhandlungstisch gelegt – und keine Seite bewegt sich. Wir brauchen mehr Akzeptanz für die Erneuerbaren Energien und die damit verbundenen Maßnahmen.
MEYER: Absolut. Wir brauchen mehr Mut in Deutschland, um Rahmenbedingungen zu schaffen, die Investitionen sektorübergreifend ermöglichen. Andere Länder schaffen es auch. Wir brauchen nicht nur eine Entbürokratisierung, sondern vielleicht auch Klimakonjunkturprogramme, damit weiter in den Klimaschutz investiert werden kann. Es gibt noch viele weitere Hemmnisse, ich möchte hier nur das Mess- und Eichrecht anführen, das uns bei der Elektromobilität ausbremst – oder die komplizierte steuerliche Betrachtung bei der Einspeisung von PV-Strom, die potenzielle Kunden abschreckt.
Hier am Tisch sitzen die Energiewirtschaft, der Wohnungsbau und die Automobilindustrie. Wie können die von Ihnen an gesprochenen Bremsen gelockert werden? Braucht es neue Austauschformate zwischen Ihnen und der Politik?
MEYER: Es gibt meiner Meinung nach keinen Mangel an Formaten. Doch vielleicht sollten wir die Krisensituation noch stärker nutzen und unsere Vorschläge vehementer einbringen. Wir sehen ja jetzt, dass die Politik einschneidende Maßnahmen wie Kontaktsperren oder exorbitante Investitionen tätigen kann, wenn es darauf ankommt. Die Frage ist: Können wir dieses Momentum auch nutzen, mutige Entscheidungen zugunsten der Energiewende zu beschleunigen?
ANDREAE: Wir hoffen, dass die Politik stärker als bisher die Empfehlungen aus unseren Verbands- oder Branchenkooperationen berücksichtigt. Die Krise hat ja eines klar gezeigt: Es ist nicht ganz schlecht, wenn man auf die Wissenschaft hört. Und es wäre sicherlich sinnvoll, wenn man auch in Bezug auf die Energiewende noch stärker auf die Expertise derjenigen setzt, die sich tagtäglich damit befassen.
Vielen Dank für das Gespräch
Interview: Jochen Reinecke
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