Sektorkopplung: Die Stromgasfrage (Teil 2)

Die Diskussion beim Thema Sektorkopplung dreht sich um die Verwendung von erneuerbarer Überschuss-Elektrizität im Wärme- und Verkehrsbereich. Michael Riechel, Vorsitzen­der des Vorstandes der Thüga AG, und Dr. Martin Grundmann , Geschäftsführer der ARGE Netz, diskutieren über das Potenzial, die Schwierigkeiten und die anstehenden Aufgaben bei der Sektorkopplung. Moderation: Tom Levine

Fortsetzung: Ohne das Thema Kapazitätsmarkt jetzt aufrollen zu wollen: Stimmt es, dass die Erneuerbaren konventionelle Kraftwerke brauchen, um Netzstabilität zu erlangen? Grundmann: Mit einer intelligenten Verknüpfung von Erneuerbaren und IT können wir bereits heute einen berechenbaren Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten. Gleichzeitig haben wir einen rückläufigen Kraftwerkspark, da wird man ab einem Punkt entscheiden müssen, was volkswirtschaftlich sinnvoller ist: Stromumwandlungsanlagen zu bauen an wichtigen Netzknotenpunkten und eine dezentralisierte Nutzung Erneuerbarer Energie – oder große Kraftwerke zu bauen, die nur zehn oder 15 Prozent des Jahres laufen sollen. Wenn wir uns in zehn Jahren nochmal treffen sollten, werden wir wahrscheinlich sagen, dass der Kraftwerkbau weniger rentabel ist als der Speicherbau. Riechel: Da stimme ich zu. Am Ende ist es eine Frage der Wirtschaftlichkeit. Hole ich mein Back-up über Speicher oder über die konventionelle Erzeugung über Gas. Da muss man schauen, wie sich die Speichertechnologie entwickelt. Ist das ein Thema für die Gasbranche? Riechel: Nein, wir beschäftigen uns nicht mit der Speicherung von Strom. Wir schauen, dass wir das Produkt Gas nach wie vor effizient einsetzen, im Wesentlichen in dem Markt, in dem wir zu Hause sind. Das ist der Wärmemarkt. Das ist bisher ja auch nachweislich erfolgreich gelaufen. Dr. Martin Grundmann ist Geschäftsführer der ARGE Netz. Vermissen Sie da Engagement, Herr Grundmann? Grundmann: Wir müssen alle stärker über den Tellerrand denken, denn in der Realität laufen die Sektoren ja schon zusammen, Beispiel Hybridheizung. Wenn wir davon ausgehen, dass wir eine dezentrale Energieerzeugung haben werden, dann benötigen wir Back-up-Kapazitäten ebenfalls dezentral. Der Trend sind heute BHKW und flexible gasbefeuerte Kraftwerke mit einzeln ansteuerbaren Motoren oder Turbinen. Das ist meines Erachtens zu begrüßen, weil die Flexibilität dort mitgeliefert wird. Aufgrund der kleinskalierten Anlagen ist hier eine hohe Anpassungsfähigkeit an die erneuerbare Energieerzeugung gegeben, dazu brauchen wir keine unflexi­blen Mini-Atomkraftwerke. Die Dezentralität der künftigen Erzeugung ist der Schlüssel. Aber wie sollen solche dezentralen Energieversorgungssysteme über unterschiedliche Sektoren hinweg gesteuert werden? Sicher durch sehr viel mehr IT als heute. Und wenn wir Echtzeitdaten aus der erneuerbaren Produktion liefern können, und zwar so, dass unterschiedliche Infrastrukturen angesteuert werden können, dann ist es sinnvoll, solche dezentralen, sektorgekoppelten Energieversorgungssysteme aufzubauen. Dabei könnten die großen Ferngasleitungen als Speicher genutzt werden, sofern keine Nachfrage vom Stromnetz oder dem Mobilitätssektor oder der Industrie erfolgt. Riechel: Da haben wir die gleiche Sicht. Auch wir gehen davon aus, dass wir zukünftig deutlich mehr Dezentralität brauchen. Das BHKW wird über Erdgas gespeist. Das heißt, der Erdgasmarkt wird möglicherweise noch wachsen. Das heißt, die Infrastruktur des Gasnetzes muss nach wie vor ausgebaut werden. Welches Gas fließt, ist dabei egal. Eindeutig ist: Wir brauchen die Kopplung von Strom- und Gasnetz, damit das Gesamtsystem – Integrated Smart Grids – entsprechend umsetzbar wird. Wird das nicht alles wahnsinnig teuer? Riechel: Ja, sicher. Es wird in den nächsten 20 Jahren zu erheblichen Investitionen kommen. Allein der Netzausbaubedarf in den Stromverteilnetzen bis 2030 wird je nach Szenario zwischen 28 und 42 Milliarden Euro kosten. Dann kommt noch der Netzausbau beim Gas dazu. Riechel: Ja, und das Problem ist, dass genau diese Investitionen, die eigentlich erforderlich wären, im Rahmen der Anreizregulierungsverordnung derzeit und auch nach den jetzigen Regierungsplänen weiterhin nicht unterstützt werden. Weil die Regulierung genau gegenläufig arbeitet. Die Verteilnetzbetreiber werden in ihren Investitionen durch die Regierungsvorgaben deutlich benachteiligt. Grundmann: Im Gasnetzbereich würde ich mich schwertun, eine Prognose über den Ausbau abzugeben. Wir haben in Deutschland ein ausgebautes Gasnetz. Deswegen wird man mit der Infrastruktur auf jeden Fall erst mal arbeiten wollen, insbesondere in den Städten und den größeren Orten. Auf dem Land oder im Neubau, wo kein Gasnetz vorhanden ist oder nicht mehr gelegt wird, sieht das anders aus, weil die meisten Gebäude energieeffizient sind. Da werden wir etwas flexibler arbeiten müssen. Denn es wird weiterhin konventionelle Heizungsanlagen geben und wir müssen erreichen, über Kopplung möglichst wenig dieser Energie zu verbrauchen und mehr über Erneuerbare bereitzustellen. Verliert das Gas langfristig die Vorherrschaft im Wärmemarkt, Herr Riechel? Riechel: Lassen Sie mich mit Zahlen antworten: Der Energiebedarf im Wärmemarkt in Deutschland liegt derzeit bei knapp 1.200 Terawattstunden. Das ist doppelt so viel wie der gesamte Stromverbrauch. Den bisherigen Wärmemarkt durch Strom substituieren zu wollen, wird allein mit Überschussmengen nicht gehen. Was für die Wärmegewinnung zugebaut werden müsste, bewegt sich in Dimensionen, die noch gar nicht klar sind. Grundmann: Sie nehmen die heutigen Zahlen. Ich gehe aber davon aus, dass wir im Bereich der Energieeffizienz große Sprünge machen werden. Zudem bedeutet Sektorkopplung mehr als Überschussstrom. Die zeitliche Perspektive sind die nächsten 30 Jahre. Wir können nicht davon ausgehen, dass der Wärmebedarf gleich bleibt und wir aufgrund der Elektrifizierung im Übermaß neue Gas- und Stromnetze brauchen. Riechel: Aber die Zahlen sprechen doch für sich, Herr Grundmann. Selbst wenn wir 50 Prozent Effizienzgewinn im Wärmemarkt hätten, müssten wir auf der Stromerzeugungsseite dennoch die gleiche Erzeugungsleistung zusätzlich für den Wärmemarkt vorhalten. Und wir müssten die Stromnetze auch entsprechend auf diese Mengen ausrichten und würden damit gleichzeitig eine bestehende Infrastruktur entwerten. Grundmann: Je schneller wir es schaffen, in dem Bereich Power-to-X voranzukommen, umso leichter wird es nachher sein, die In­frastruktur Erdgasnetz auch wirtschaftlich zu betreiben. Wenn wir uns jetzt noch Zeit lassen, mehr in diese Technologie zu investieren, dann wird man mit den Gasnetzen Probleme bekommen. Riechel: Lassen Sie mich an dieser Stelle noch mal verdeutlichen, warum die Gas­infrastruktur für uns so wichtig ist: Erstens, weil die Erneuerbaren Energien über Power-to-Gas in ein bestehendes Netz eingespeist werden können. Zweitens, weil mit dieser Infrastruktur alle Kunden erreichbar sind, vom Haushaltskunden bis zum Industriekunden. Und drittens, weil wir – und das ist der wesentliche Unterschied zum Strom – in der Gasinfrastruktur die Verteilung, den Ferntransport und die Speicherung vereinen. Ohne Gasinfrastruktur, gekoppelt mit dem Stromsektor, wird die Energiewende überhaupt nicht funktionieren. Grundmann: Dem stimme ich zu. Sektorkopplung bedeutet auch für mich, dass man sich nicht nur auf einen Energieträger oder eine Nutzungsform konzentriert, sondern den effizientesten und wirtschaftlichsten Weg für die Distribution Erneuerbarer Energie wählt. In welcher Form das stattfindet, hängt aus heutiger Sicht zu ungefähr drei Vierteln von staatlichen Abgaben und Steuern ab und zu einem Viertel von dem, was man an Erzeugung, Vertrieb und so weiter hat. Das muss sich einfach ändern, weil sonst auch die Vergleichbarkeit der Infrastrukturen nicht möglich sein wird. Wir haben noch nicht über den Mobilitäts­markt gesprochen. Bleiben die beiden Energieträger Strom und Gas Konkurrenten oder gibt es Aussicht auf eine Kopplung der beiden? Riechel: Man kann schon jetzt von einer Kopplung sprechen. Vor über 20 Jahren hat die Gasbranche versucht, das Thema Mobilität aufzunehmen. Sie hat erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt, um die In­frastruktur aufzubauen. Der Erfolg ist sehr überschaubar. Jetzt geht man hin, mit Förderung die E-Mobilität anzuschieben. Ich halte den Ansatz politisch schlichtweg für falsch, weil wir kein Nachfrageproblem haben, sondern ein Technologieproblem. Grundmann: Ich kann mich dem nicht ganz anschließen. Unabhängig von der volkswirtschaftlichen Logik ist es offensichtlich notwendig, den Markt für Elektrofahrzeuge anzuregen; beim Erdgas als Treibstoff soll die Förderung ja ebenfalls verlängert werden. Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass die Stromversorgung für diese Fahrzeuge ausschließlich aus Erneuerbarer Energie erfolgt, und da hat der Gesetzgeber leider eine Lücke gelassen. Herr Riechel, wird es irgendwann eine Gas­ausstiegsdebatte geben? Riechel: Irgendwann? Das kann ich nicht ausschließen, wir sind aber gut beraten, den Energieträger Gas und die Infrastruktur als wichtiges Instrument für Flexibilität und Versorgungssicherheit zu sehen. Sehen Sie das auch so, Herr Grundmann? Michael Riechel ist Vorstand der Thüga AG. Grundmann: Ich würde anders anfangen: Wer A wie Abschalten fordert, muss auch B sagen und beschleunigt die Erneuerbaren nutzen. Und da gibt es auch für Herrn Riechel das Thema Versorgungssicherheit. Erneuerbare Erzeugungseinheiten können so zusammengeschaltet werden, dass Lieferversprechen gehalten werden können. Ganz ohne stetige Erzeuger oder Speicher wird das kurzfristig nicht gelingen. Wir brauchen die Kombination aus fluktuierenden und kleiner dimensionierten flexiblen, stetigen Anlagen, die sich an die erneuerbare Erzeugung anpassen können. Dann gelingt die Versorgungssicherheit auf Basis Erneuerbarer Energien. Zu welchem Zeitpunkt diese Verbrennungsanlagen mit Wasserstoff oder Synthese­gas befeuert werden, ist eine Frage der CO 2 -Bepreisung und der Wirtschaftlichkeit in der Umwandlung. Riechel: Also für mich ist ein Punkt ganz wichtig. Egal, was wir diskutieren, ob Strom oder Gas, es muss politisch in einem diskriminierungsfreien Rahmen passieren. Und am Ende, wenn wir über das Thema Markt sprechen, ist der zentrale Punkt im Markt der Kunde und der muss in diese Lösungen und auch in diese politischen Entscheidungen in jedem Fall mit einbezogen werden. Grundmann: Entscheidend ist, dass wir Lösungen aus Verbrauchersicht anbieten, die im Einklang mit den politischen Zielen der Dekarbonisierung stehen, weil die Reduktion von Treibhausgasen letztlich das Ziel der Energiewende ist. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass wir nicht bis zur nächsten Legislaturperiode warten sollten, um erste vorsichtige Schritte in Richtung Sektorkopplung zu gehen. Wir haben hierfür ein Transformationsmodell mit konkreten Vorschlägen vorgelegt. Die Entwicklungen, über die wir hier sprechen, sollten die Chance erhalten, in die Erprobung zu gehen, um am Markt zu sehen, wie sich Wirtschaftlichkeitskonzepte und neue Partnerschaften entwickeln und wie das, was man Wettbewerb nennt, dann auf einem „Level Playing Field“ auch stattfinden kann. Zurück zu Teil 1

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